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Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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wollte, er wusste, seine Berührung würde ihren Kummer nur vergrößern. »Fahr nach Hause, Elisha. Mama wird sich Sorgen um dich machen.«
    »Mama macht sich keine Sorgen um mich.« Elisha wischte sich die Tränen von den Wangen. »Sie sitzt auf der Veranda in ihrem Schaukelstuhl. Das macht sie, Raymond. Sie schaukelt vor und zurück und starrt auf die Straße und hofft, dass alles nur ein Irrtum ist und Antoine nach Hause kommt. Mit jedem Tag entgleitet sie uns mehr. Sie weiß nicht, was ich mache, oder kümmert sich nicht darum.«
    Raymond spürte die Last ihrer Einsamkeit. »Ich würde es ändern, wenn ich es könnte.« Er trat auf sie zu. Sie war seine kleine Schwester, ein Kind, das er wie einen Welpen geknuddelt hatte, als sie klein gewesen war. Er und Antoine hatten sie mitgenommen, wenn sie zu ihren Abenteuern aufgebrochen waren, hatten auf sie gewartet, wenn ihre Beine zu kurz zum Laufen waren. Mein Gott, sie war zu einer Frau geworden.
    »Warum bist du zurückgekommen?« Sie klang verwirrt, nicht anklagend. »Du willst deine Familie nicht sehen, du hast keine Freunde, du streifst wie ein Gespenst durch die Stadt. Warum bist du zurückgekommen?«
    Er zögerte, beschloss dann aber, die Wahrheit zu sagen. »Weil ich nicht wusste, wo ich sonst hin sollte.«
    Frische Tränen bildeten im Mondlicht silberne Spuren in ihrem Gesicht. »Ich weiß nicht, wer mir mehr leidtun soll. Du oder Mama oder ich mir selbst.«
    »Geh nach Hause, Elisha. Es ist gefährlich hier draußen. Du solltest nachts zu Hause bleiben.« Ihr Kummer, von dem sie nicht lassen konnte, hatte alle ihre Freunde oder Verehrer vertrieben, und auch das war seine Schuld.
    Raymond ging zu seinem Wagen und stieg ein. Als er zurückstieß, sah er im Scheinwerferlicht noch einmal Elisha, dann verließ er den Friedhof. Er musste Adele finden, bevor die ganze Gemeinde von ihrer Flucht erfuhr. Er musste sie finden, und er würde sie – zu ihrer eigenen Sicherheit – in Gewahrsam nehmen müssen. Seiner Familie konnte er nicht helfen, aber wenn er auch noch Adele im Stich ließ, würde er sich mit seinem endgültigen Untergang abfinden müssen.
     
    Adele war barfuß. So viel konnte Raymond von ihren Spuren ablesen. Sie hatte die Richtung zur Stadt eingeschlagen – falls sie überhaupt wusste, wohin sie unterwegs war. Mit Hilfe einer Taschenlampe folgte Raymond den Spuren, die von Madame Louiselles Haus in den dichten Wald führten. Adeles Spur zu folgen war das Einzige, was die in seinem Kopf wütenden Dämonen beruhigte. Mit zusammengekniffenen Augen konzentrierte er sich auf seine Aufgabe.
    Vorsichtig setzte er seine Schritte und fürchtete eher Schlangen oder Alligatoren als Phantasiewesen. Aus der Länge ihrer Schritte war ersichtlich, dass sie solche Befürchtungen nicht hatte. Sie war gelaufen, hatte unbekümmert ihre Schritte gesetzt, ungeachtet, was sie aufscheuchen mochte. Fast so, als wäre sie ein Teil des Sumpfes.
    Die Geschichte, die ihre Spuren erzählten, war dabei alles andere als eindeutig. Adele war von ihrem Koma auferstanden, hatte sich angezogen, war in die Nacht hinausgetreten und hatte zu laufen begonnen. Die letzte Meile, die er zurückgelegt hatte, war sie keineswegs langsamer geworden. Eine Frau, die so schwach war, dass sie sich im Bett ohne fremde Hilfe kaum aufsetzen konnte, lief nun durch den Wald. Als er mit dem Stiefel in ein Schlammloch rutschte, wurde Raymond klar, dass er zwei Schlüsse ziehen konnte. Entweder hatte Adele sie alle an der Nase herumgeführt und ihre Schwäche nur vorgetäuscht, oder sie war so krank, dass sie nicht wusste, was sie tat. Die dritte Möglichkeit stand außer Frage. Sie war kein Wesen, das die Gestalt wechselte und über übernatürliche Kräfte verfügte.
    Er platschte weiter durch den Morast. Der abnehmende Mond drang nicht durch das dichte Blätterwerk, er musste sich auf den schwachen Schein seiner Taschenlampe verlassen. Dann fand er wieder den Abdruck ihres Fußes, die Ballen hatten sich tief in die weiche Erde gedrückt, der Abstand zwischen den Schritten zählte fast einen Meter. Sie lief noch immer.
    Als die Fährte einen Wasserlauf erreichte, blieb er stehen. Die Spuren verschwanden im Wasser. Er richtete die Taschenlampe auf das gegenüberliegende Ufer, konnte aber nicht sehen, wo sie den Bach wieder verlassen hatte. Oder ob sie ihn überhaupt verlassen hatte. Er richtete den Strahl auf das Gewässer und erwartete fast, dass sie ihn mit weit aufgerissenen Augen vom Grund des

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