Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Gemeinde.«
Was waren seine Motive? Sah er sie lediglich als Mittel zum Zweck, oder sah er sie auch als Frau? Aber das war keine Frage, die sie ihm offen stellen konnte. »Ja, ich werde mit den Leuten auf Ihrer Liste sprechen und sie bitten, sich mit Ihnen zu treffen.«
»Danke, Chula.«
»Eine Warnung nur, John. Wenn Sie hier für Unruhe sorgen, würde ich es Raymond Thibodeaux durchaus zutrauen, dass er Sie ins Gefängnis wirft. Er hat sogar die Bastion-Familie gezwungen, die Beerdigung von Henri heute Morgen im kleinsten Kreis abzuhalten, und damit an die fünfhundert Leute vor den Kopf gestoßen, die nur auf Klatsch aus waren.«
»Wann können wir anfangen? Ich muss in Baton Rouge Seminare halten, aber wenn die Termine feststehen, könnte ich hin und her reisen.«
»Raymond ist der Schlüssel zu allen anderen. Wenn er mit Ihnen spricht, tun es die anderen auch.«
»Dann werde ich ihm als Erstes einen Besuch abstatten. Und jetzt sollte ich Sie wohl nach Hause begleiten. Ihre Mutter wird sich Sorgen machen.«
Chula schüttelte den Kopf. »Falsch. Sie wird in die Hände klatschen, dass wir genügend Gesprächsstoff gefunden haben, um den ganzen Abend damit zuzubringen.«
Sie verließen den Drugstore und mussten laut lachen, als ein als Pirat verkleidetes Kind an ihnen vorbeisauste. Das Mondlicht strich durch die Bäume am Bürgersteig, während Chula von der Entwicklung der Stadt und den Veränderungen erzählte, die der kommende Anschluss ans Eisenbahnnetz mit sich bringen würde. »Die Tage des Teche als Lebensader der Gemeinde sind damit wahrscheinlich gezählt.«
»Höre ich da einen traurigen Unterton?«
Chula dachte nach. »Ich bin neunundzwanzig und benehme mich wie eine Siebzigjährige. Immer verzweifle ich daran, wie sehr die Welt sich verändert. Jeder andere würde Ihnen sagen, dass die Eisenbahn New Iberia der Welt näher bringt.« Sie zögerte und trat einiges Laub vom Bürgersteig. »Aber ich will nicht, dass die Welt näher kommt.«
»Was ist mit den Annehmlichkeiten des modernen Lebens?«
»Der Preis dafür ist immer zu hoch.« Sie lächelte gequält. »Wir sind ein ganz besonderer Ort, einzigartig. Das alles wird sich verändern.« In diesem Moment erhaschte sie aus dem Augenwinkel heraus eine Gestalt, die sich hinter den Sträuchern in Mrs. McLemores Garten verbarg.
»Was ist?« John berührte sie am Arm.
»Wahrscheinlich nur ein Kind, das sich einen Streich erlaubt.« Sie blieb stehen und spähte in den Garten. »Mrs. McLemore lebt allein. Vielleicht sollte ich nachsehen.«
»Ich komme mit.«
Sie gingen durch den Vorgarten nach hinten, wo die Schatten am dunkelsten waren. Chula ließ den Blick über den Garten schweifen, vom Geräteschuppen zu den Azaleen und Kamelien bis zu einem Pekannussbaum. Es fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. John stand dicht neben ihr.
»Da!«
Ganz hinten im Garten, wo eine dichte Glyzine den Zaun verdeckte, sah sie jemanden – oder etwas – laufen. Das Wesen sah weder wie ein Mensch noch wie ein Tier aus und huschte in der Dunkelheit davon.
»Halt!« John rannte los, Chula folgte dichtauf.
Sie stürzten zum Zaun und blieben stehen. Was immer es gewesen sein mochte, es war verschwunden.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte John. »Was war das? Ich könnte nicht sagen, ob es ein Mensch oder ein Tier war.«
Chulas Herz pochte. »Wahrscheinlich ein älterer Junge bei einem Halloween-Streich. Gehen wir nach Hause und rufen den Sheriff.« Sie nahm seine Hand und zog ihn aus den finsteren Schatten zum Bürgersteig, wo sie sich schnellen Schritts auf den Heimweg machten.
Raymond saß auf der Erde, mit dem Rücken gegen einen Grabstein gelehnt, und beobachtete das im Mondlicht schimmernde Louisianamoos an den alten Eichen.
»Alles Gute zum Geburtstag, Antoine«, sagte er. Er stieß den charakteristischen Ruf eines Falken aus. »Ich kann nicht lange bleiben, aber ich wollte dich trotzdem kurz besuchen.« Er ging in die Hocke und beugte sich zum Grabstein vor, so dass er die Inschrift mit dem Finger nachzeichnen konnte. »Antoine Thibodeaux, 1925 – 1943, geliebter Sohn und Bruder, der seiner Pflicht gehorchte.« Raymond hatte den Grabstein bezahlt, aber er hasste die Inschrift. »Geliebter Sohn, von seinem Bruder im Stich gelassen« hätte es wesentlich besser getroffen. Seine falsche Einschätzung der Lage hatte Antoine das Leben gekostet. Zum Teufel, Antoine war noch kaum Soldat gewesen, als er bereits sterben musste, und war im eigentlichen Sinn
Weitere Kostenlose Bücher