Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
nicht noch mehr, John.«
Er nahm ihre Hand und hielt sie locker fest. »Das ist nicht meine Absicht. Ich bin vor allem hier, um zu beobachten. Man hat nur selten Gelegenheit, miterleben zu können, wie die Menschen auf Mythen reagieren, die ihren Ursprung in prähistorischer Zeit haben – falls man den psychologischen Theorien Glauben schenken will. Ich will nur ein paar Fragen stellen.«
»Fragen können die Gedanken der Menschen manchmal in bestimmte Bahnen lenken.«
Er musterte sie. »Sie haben wenig Zutrauen zu Ihren Mitmenschen, Chula. Sie sehen in jedem von uns nur den Wolf, wie C. G. Jung sagen würde.«
Sie musste lächeln. »So habe ich es noch nie betrachtet, aber wahrscheinlich haben Sie recht. Menschen geraten in Panik und machen Dummheiten. Ich kann es jeden Tag miterleben. Wir führen einen Krieg, der sinnlos ist. Die Mächtigen der Welt sind sich in manchen Fragen uneins, und Hunderttausende Soldaten, die keinerlei Meinung dazu haben, müssen deswegen sterben. Es fällt mir schwer, einer Gesellschaft Vertrauen entgegenzubringen, die sich in so eine elende Lage manövriert hat.« Sie wartete auf seine Reaktion. Wenn er sich von ihrer Meinung abgestoßen fühlen sollte, dann war es das Beste, es gleich jetzt herauszufinden.
Er lachte unerwartet laut auf. »Es überrascht mich, dass man Sie hier noch nicht gehängt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat.«
»Man mag mich hier nicht besonders.« Sie zuckte mit den Achseln und versuchte zu verbergen, dass es ihr jedes Mal einen Stich gab, wenn sie darüber nachdachte.
»Weil Sie eine Frau sind, die die Arbeit eines Mannes macht, oder weil Sie eine intelligente Frau sind, die es wagt, ihre Meinung zu äußern?«
»Beides.« Aus irgendeinem Grund fiel es ihr schwer, es sich laut einzugestehen. Sie hatte geglaubt, sich mit ihrer gesellschaftlichen Isolation abgefunden zu haben, jetzt aber brach alles wieder auf. Welche Wirkung hatte dieser John LeDeux nur auf sie?
»Haben Sie jemals daran gedacht, von hier wegzuziehen?«
Die Frage war freundlich gemeint, aber Chula fühlte sich trotzdem wie vom Donner gerührt. »Das würde keine Rolle spielen. Ich wäre trotzdem die Außenseiterin.« Sie fühlte sich so tief getroffen, dass ihr fast die Tränen kamen. »Ich hänge sehr an dieser Gegend. Natürlich könnte ich weggehen, aber ich würde mich woanders nie zu Hause fühlen.«
Er drückte ihr die Hand, dann ließ er sie los. »Sind Sie sich dessen so sicher, Chula?«
»Die Familie meiner Mutter lebt seit fast zehn Generationen hier, sie gehörten zu den ersten Akadiern, die von Neuschottland hierherdeportiert wurden. Sie waren mit Gewalt in ein Land geschafft worden, das sonst niemand haben wollte – in die Sümpfe und die Morastlandschaft, die einen so großen Teil von Louisiana ausmachen. Und wir haben diese Landschaft zu unserer Heimat gemacht.«
»Mir ist, als sollte ich mir das alles gleich notieren«, witzelte er gutgelaunt. »Diese Heimatverbundenheit ist mir unbegreiflich. Ich hab im Zuge meiner akademischen Karriere in vielen Staaten im Süden gelebt, in einigen sehr interessanten Städten. Es gibt keinen Ort, den ich nicht wieder einfach so verlassen könnte.«
»Für die Cajun ist die Heimat alles, John.«
»Und trotzdem sind Sie aufs College weggegangen.«
»Ein zeitlich befristetes Exil.« Sie hatte ihren Anfall von Selbstmitleid überwunden und konnte wieder über sich selbst lachen. »Nach dem Abschluss bin ich sofort zurückgekommen, und jetzt habe ich diese sehr gute Stelle.«
Er beugte sich vor und flüsterte ihr verschwörerisch zu. »Wahrscheinlich verdienen Sie mehr als ich.«
»Gott bewahre.« Sie tat so, als wäre es das Schrecklichste der Welt.
»Werden Sie mir bei den Gesprächen helfen?«
»Mit wem wollen Sie reden?« Sie war sich nicht sicher, ob sie etwas damit zu tun haben wollte.
»Dem Sheriff, seinem Deputy, der traiteuse , der Witwe, dem Jungen, der den Vorfall gemeldet hat – mit den Leuten, die am meisten darin involviert sind.«
»Was ist mit Adele Hebert?«
»Ich würde vieles darum geben, wenn ich mit ihr reden könnte, aber ich fürchte, sie werden mich nicht zu ihr lassen.«
»Angeblich spricht sie mit niemandem. Sie ist sehr krank.« Sie sah die junge Frau wieder vor sich, die, stoßweise atmend, in Madame Louiselles Haus gelegen hatte. »Sie ist in eine Art Koma gefallen. Keiner glaubt, dass sie überlebt.«
»Werden Sie mir bei den anderen helfen? Ihre Mutter sagt, Sie kennen jeden in der
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