Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
erkennen.
»He! He, du, komm her!« Praytor stolperte auf die Straße.
Und dann hörte sie den Wagen und sah – zu spät – die Scheinwerfer, die sich mit hoher Geschwindigkeit näherten und deren Lichtkegel Praytor anstrahlten, in dessen Miene blankes Entsetzen stand.
Der Fahrer trat hart auf die Bremse, im letzten Moment brach der Wagen aus, pflügte durch das Unterholz auf der anderen Straßenseite und holperte mit auf und ab schwenkenden Scheinwerferlichtern über Wurzeln und Büsche.
Florence erkannte den Wagen. Ohne Praytor eines Blickes zu würdigen, lief sie in den Wald, wo der Wagen zum Stehen gekommen war.
»Raymond«, rief sie und riss die Fahrertür auf. »Raymond.« Er saß am Steuer, das er noch immer umklammert hielt. »Raymond.« Sie glaubte, vor Angst keine Luft mehr zu bekommen. »Kannst du mich hören? Kannst du dich bewegen?« Sie musste an die Metallsplitter in seinem Rücken denken, an die Dinge, die er ihr nie erzählt hatte, die sich aber alle in der Stadt zuraunten – dass das Schrapnell eines Tages zu wandern beginnen und sein Rückgrat durchtrennen würde.
»Alles in Ordnung«, sagte er endlich. »Wer war der Idiot auf der Straße?«
Sie zitterte am ganzen Leib. Als sie ihn an der Schulter berührte, spürte sie seine harten Muskeln und ihre Wärme; Tränen liefen ihr über die Wangen. »Praytor. Er ist betrunken.«
»Er wird tot sein, wenn ich aussteige.«
Langsam schwang Raymond die Beine aus dem Wagen, erhob sich und machte vorsichtig die ersten Schritte, als wäre er sich selbst nicht sicher, ob wirklich alles in Ordnung war.
Am liebsten hätte sie ihn umarmt und festgehalten, hätte sich an ihn schmiegen wollen, um sicherzugehen, dass er nicht verletzt war. Aber sie trat zurück und ließ ihn zur Straße vorangehen, wo Praytor im Graben kauerte. Es roch nach Erbrochenem.
»Praytor, ich werde Ihnen die Scheiße aus dem Leib prügeln, bis von Ihnen nur noch die Stiefel dastehen.« Raymond wankte leicht.
Florence hielt sich zurück, es blieb ihr nichts anderes übrig, als tatenlos mit anzusehen, was sich zwischen den beiden Männern abspielen würde. Praytor war ihr egal, bei Raymond aber war das eine andere Sache. Von Praytor Bless war bekannt, dass er immer ein Messer bei sich hatte und sich hinterhältiger Tricks bediente.
Als Antwort kam von Praytor nur ein weiterer Schwall Erbrochenes.
»Scheiße.« Raymond schüttelte den Kopf. »Sie sind die Mühe nicht wert.« Er drehte sich um, sah von Florence zu den Scheinwerfern seines Wagens, die immer noch in den Wald strahlten.
Er wandte sich Florence zu. Ein Lächeln streifte ihre Mundwinkel, doch als sie auf ihn zugehen wollte, hörte sie einen weiteren Wagen, der durch die Stille der Nacht schnitt. Kurz darauf kamen die Scheinwerfer ins Blickfeld, der Wagen bremste ab und hielt an. Aus der Beifahrertür sprang Chula Baker.
»Raymond, ich hab schon überall nach dir gesucht.« Sie stürzte auf den Deputy zu, während ein großer, attraktiver Mann in Freizeithose und Jackett aus dem glänzend-polierten Studebaker stieg. Er blieb am Wagen stehen, beobachtete alles, mischte sich aber nicht ein.
Chula holte tief Luft. »Wir haben etwas in Mrs. McLemores Garten gesehen. Was Seltsames. Als wir Sheriff Joe endlich gefunden haben, sagte er, ich soll dich suchen.«
»Was hast du gesehen?«, fragte Raymond.
Chula lachte nervös. Chula Baker, wusste Florence, war in der Stadt nicht sonderlich beliebt, weil sie nicht dem üblichen Frauenbild entsprach. Man sagte, sie habe die Nase zu oft in ihre Bücher gesteckt und dabei ihre Weiblichkeit eingebüßt. Noch bösere Zungen behaupteten, sie und die zweite Postangestellte, Claudia Breck, seien gouines . Florence betrachtete sie. Wie sie dastand, mit beiden Beinen fest auf der Erde, den Blick unverwandt auf Raymond gerichtet, nötigte sie Florence Bewunderung ab.
»Irgendetwas war da im Garten. Wir sind den Bürgersteig entlanggegangen, und im ersten Augenblick dachte ich, es handle sich um einen Streich. Aber …« Ihre Stimme überschlug sich.
Der Mann trat nun vor und stützte mit einer Hand Chulas Arm. »Es hat sich jedenfalls seltsam bewegt. Wir konnten nicht sagen, ob es ein Mensch oder ein Tier war.« Er sprach mit tiefer, ruhiger Stimme.
Unweigerlich musste Florence an das denken, was sie kurz zuvor selbst erblickt hatte. »Ich hab es auch gesehen. Es war hier, kurz vor dem Unfall.« Sie trat näher. »Praytor wollte ihm hinterher, aber er ist zu betrunken.«
»Aber es
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