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Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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war nicht klar zu erkennen?«, fragte Raymond im Scheinwerferlicht des Wagens.
    »Nein«, gestand Chula. »Es war dunkel. Ehrlich gesagt, es hätte ein Tier sein können.«
    »Und hier?« Raymond sah zu Florence.
    »Es war hinter einem Baum und huschte durch die Schatten.«
    Raymond sah zu Praytor, der im Straßengraben eingeschlafen war. »Danke, Chula. Ich werde sofort zu Mrs. McLemore fahren.«
    »Freut mich, helfen zu können, Raymond. Das ist John LeDeux, Professor an der LSU . Er arbeitet an einem Buch, und er würde sich gern mit dir unterhalten, wenn du Zeit hast.«
    »Worüber?«
    Florence entging nicht, wie sehr sich Raymond dagegen sträubte. Sie trat noch ein wenig näher, sah neidisch zu John LeDeux und wie er Chula berührte, eine Geste freundschaftlich-höflichen Beistands, die den allgemeinen Umgangsformen entsprach und die ein Mann ohne weiteres einer Frau gegenüber an den Tag legen konnte.
    LeDeux lächelte. »Das werde ich Ihnen alles erklären, wenn Sie mal eine freie Stunde haben. Im Moment aber sollte ich Ihnen lieber helfen, Ihren Wagen aus dem Wald zu schaffen.« Er zog sein Jackett aus und reichte es Chula. Ohne einen Blick zurück ging er über die Straße und ins Gehölz, wo im Scheinwerferlicht des Wagens die Bäume seltsame Schatten warfen.
     
    Der Priester nahm das letzte Popcorn-Stück und ließ es in die Papiertüte fallen, die ihm der kleine Landstreicher entgegenhielt. »Bitte keinen Streich heute Abend«, sagte er und lächelte den Jungen an, der nicht älter als sechs sein konnte. »Ich hoffe, ich sehe dich nächsten Sonntag in der Messe.«
    »Ja, Vater«, sagte der Junge. »Danke.« Er rannte zu seiner wartenden Mutter.
    Der Priester sah zu, wie die Frau dem Jungen die Hand auf die Schulter legte und mit ihm fortging. Das hatte er den gesamten Abend über sehen müssen – Mütter, die ihre Kleinen beschützten.
    Er sperrte die Tür ab und machte das Licht aus. Seine Süßigkeiten waren von den Dutzenden Kindern arg dezimiert worden. Das Pfarrhaus war bei den Kindern sehr beliebt, weil Colista klebriges Popcorn, kandierte Äpfel, kleine Schokoladen- und Pekannusskuchen sowie weitere Leckereien zubereitete, die hoch im Kurs standen. Colista sagte, es sei seine Pflicht, die Kinder zu verführen, damit sie dem Weg des Herrn folgten, und ein bisschen Popcorn und Sirup seien nur ein kleiner Preis, den er dafür zu entrichten habe.
    »Spielt keine Rolle, wie Sie ihre Seelen einfangen, Vater, solange Sie sie in die Kirche locken«, hatte sie ihm gesagt, als sie neben der Eingangstür die Tabletts mit den Süßigkeiten vorbereitete.
    Er musste ihr zustimmen. Bestechung war nicht immer das Schlechteste.
    Er ging zum Sideboard und schenkte sich ein kleines Glas Portwein ein. Die Nacht war kühl, er brauchte etwas, das ihm das Blut wärmte. Oder die Gedanken betäubte. Die Bilder von Henri Bastions freudloser Beerdigung lasteten noch auf ihm.
    Deputy Thibodeaux hatte angeordnet, den Sarg mit kopflosen Nägeln zu verschließen – damit die Neugierigen nicht auf die Idee kamen, noch einen Blick auf den Leichnam zu werfen. Der Leichenbestatter hatte sich geweigert, Fragen zu beantworten. Sogar Doc Fletcher hatte sich schmallippig und abweisend gegeben. Raymond hatte alle Offiziellen der Stadt dazu vergattert, Stillschweigen zu bewahren, damit nicht noch mehr Gerüchte die Runde machten.
    Der Priester setzte sich vor das kleine Feuer im Kamin und nippte an seinem Port. Der süße, scharfe Geschmack beruhigte ihn. Die kühle Witterung würde wenigstens den Insekten zusetzen, die schrecklichen Fieberepidemien sollten damit vorbei sein. Die letzten Nachrichten vom Krieg klangen hoffnungsvoller als jemals zuvor. Die amerikanischen Truppen rückten in Europa vor und trieben die Deutschen vor sich her. Unter der Hand sprach man sogar schon davon, dass der Sieg bevorstehe.
    Er holte sein Messbuch hervor und las die Bibelstellen für den folgenden Tag. Die Vorbereitung der Predigt hatte immer zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gezählt. Rom schrieb die Bibelstellen vor, aber es war seine Aufgabe, den Bewohnern von New Iberia deren Auslegung nahezubringen, sie mit Parabeln und Geschichten zu erläutern, damit sie auf das harte Leben zutrafen, das viele seiner Gemeindemitglieder führten.
    Am Anfang seines Priesterdaseins hatte er seine Berufung nicht in Frage gestellt. Er war aus tiefstem Herzen davon überzeugt gewesen, dass der Herr Arbeit für ihn habe. So hatte er sich vom relativen Wohlstand

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