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Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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gehüllten Frau, die am Ende eines dicken Seils sacht im Wind hin und her schwang.
    »Rosa!«, schrie er und lief auf die Gestalt zu. »Rosa! Nein!«

14
     
     

     
     
     
     

     
    as erste blasse Licht der Morgendämmerung fiel durch die Gitter der leeren Zelle, dort, wo Adele sich hätte befinden sollen. Raymond stand an der offenen Tür und wog die Konsequenzen seines Handelns ab. Vergangene Nacht, als er Elisha getroffen hatte, war ihm nicht bewusst gewesen, wie sehr sie ihn an Adele erinnerte. Jetzt, als er dorthin sah, wo Adele hätte sein sollen, wusste er, dass es richtig war, Elisha und seine Mutter zu meiden. Ganz egal, was er beabsichtigte – und er hatte wirklich Antoine, Elisha, seine Mutter und Adele beschützen wollen –, er brachte jedem, mit dem er in Berührung kam, nur Leid und Schmerz. Sobald Adele gefunden war, würde er fortgehen. Er war ein noch größerer Einzelgänger als ein loup-garou . Adele hatte Gefühle in ihm geweckt, weil er sich selbst in ihr sah. In ihr hatte er seine mögliche Erlösung gesehen.
    Sie aber irrte jetzt allein durch die Wälder, hungrig, krank, wahrscheinlich unter Drogen. Er hatte nichts gefunden, was beweisen würde, dass sie den grausamen Mord nicht begangen hatte. Sollten die Bewohner der Stadt in Aufruhr geraten, würden sie sie umbringen. Mit dem Sonnenaufgang wollte er sich auf die Suche nach Praytor Bless machen, oder wenigstens nach dessen Wagen, und das Reifenprofil mit jenem abgleichen, dass er im Hof von Madame gefunden hatte.
    Die Tür wurde aufgerissen, und mit wehendem Mantel und dem Geruch des Herbstes stürzte Pinkney herein. »Big Ethel ist ganz aufgelöst! Gerade hat sie erfahren, dass ihre Enkelin vermisst wird. Seit gestern Abend um acht.«
    Langsam drehte sich Raymond um. Er war die ganze Nacht wach gewesen, nach dem Unfall taten ihm alle Knochen weh. Aber diese körperlichen Schmerzen waren nichts zu der Angst, die ihn bei Pinkneys Neuigkeiten packte. »Vermisst? Du meinst, sie ist weggelaufen oder …«
    »Sie wird vermisst. Peat Moss, so heißt sie, sie wollte zum Plumpsklo und ist nicht wiedergekommen.«
    »Wie alt ist sie?«
    »Vier.«
    Jeder Funken Hoffnung war mit einem Schlag zunichte. Es ging um ein Kleinkind, nicht um eine widerspenstige Jugendliche. »Und sie wird seit acht Uhr abends vermisst? Warum haben sie uns nicht gerufen?«
    »Sie haben kein Telefon, und dann haben sie sich auf die Suche gemacht. Hatten keine Zeit, um in die Stadt zu fahren und nach Ihnen oder Sheriff Joe zu suchen.«
    Das war die bittere Wahrheit. Selbst wenn die Familie in die Stadt gekommen wäre, hätte es keine Garantie gegeben, dass sie Joe gefunden hätte. Er selbst hatte zu der Zeit Adeles Spur verfolgt – er war überzeugt, dass sie es war, die da draußen durch die Nacht geisterte. Das Problem dabei war: Er hatte lediglich Florence erzählt, dass Adele aus Madames Haus geflohen war, sonst hatte er niemanden vorgewarnt. Und jetzt wurde ein Kind vermisst.
    »Wie hat Big Ethel erfahren, dass das Kind vermisst wird?«
    Pinkney war wieder zu Atem gekommen. Er schob seinen heißgeliebten alten Filzhut zurück und holte tief Luft. »Big Ethel hat in der Küche Schinken und Brötchen gemacht, da ist ihr Sohn Leroy gekommen, durch die Hintertür, und war ganz durcheinander, er hat nämlich Freiwillige auftreiben wollen, die den Wald absuchen.«
    »Ist Leroy noch da?«
    »War er zumindest, als ich gegangen bin. Hab die Brötchen eingepackt und bin sofort hierher, um es Ihnen zu erzählen.«
    »Danke, Pinkney.« Raymond griff sich seine Jacke und den Filzhut, den er bei kaltem Wetter trug. Seine Waffe steckte bereits im Hüftgurt. Er wollte zur Tür.
    »Was ist mit Ihrem Brötchen, Mr. Raymond?«
    »Lass es dir schmecken, Pinkney. Falls du Joe sehen solltest, sag ihm, ich muss mit ihm reden. Sag ihm, er soll seinen Fuß nicht vor die Tür setzen, bevor er mit mir gesprochen hat. Sag ihm, es ist wichtig.«
    »Soll ich ihm von Peat Moss erzählen?«
    Raymond nickte. »Mach das.« Er trat in den schneidenden Wind hinaus. Am liebsten wäre er gerannt, aber er zwang sich dazu, die drei Straßenzüge zum Café in normalem Tempo zurückzulegen. Big Ethel war schon von weitem zu hören, als er den Hintereingang ansteuerte.
    Eine Weile lang stand er nur vor der Fliegentür und ließ ihre Klagen über sich ergehen. Eine weitere Familie, der er Unglück gebracht hatte. Er trat ein. Sie saß auf einem Hocker, hatte sich die Schürze über den Kopf gezogen und ruckte

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