Im Netz der Angst
wirklich ganz sicher?«
Es blieb unausgesprochen, dass Aimee sich schon einmal in einem Patienten getäuscht hatte. Und dieser Fehler kam sie bis heute teuer zu stehen. Als Kyle plötzlich vom Opfer zum Täter geworden war, hatte sie eine Woche mit gebrochenem Kiefer im Krankenhaus und die beiden Jahre danach mit größten Selbstzweifeln verbracht. Aber mit Taylor war es anders. Das Mädchen brauchte jemanden, der an es glaubte. »Ganz sicher.«
Julie nickte. »Also gut. Was meint denn die Polizei?«
Das war eine ausgezeichnete Frage. Aimee wurde weder aus Detective Wolfs kontrollierter Fassade noch aus ihren eigenen Gefühlen schlau, wenn sein Blick sie traf. »Ich weiß es nicht. Ich denke, sie können momentan nichts ausschließen.«
Julie stand auf und umarmte Aimee zum Abschied. »Also dann, gute Nacht. Falls du reden möchtest …«
»… bist du die Erste, bei der ich mich melde«, versicherte Aimee ihr und ging zur Tür.
»Aimee.« Julie hielt sie auf.
»Ja?«
»Sei vorsichtig!«
Abgesehen von der schäbigen Einrichtung war Lois Bradleys Mietwohnung wie leer gefegt.
Bradley hatte offenbar in großer Eile gepackt und sich aus dem Staub gemacht. Eine Nachsendeanschrift hatte sie nicht hinterlassen, dafür aber Vorräte im Kühlschrank und Müll auf dem Boden. Laut Hausverwaltung war noch für die nächsten zwei Wochen, also bis zum Monatsende, Miete bezahlt worden. Joshs Erfahrung nach verschwendeten Menschen, die vom recht miesen Gehalt einer Putzfrau leben mussten und nur Monatsmietverträge hatten, nicht einfach so zwei Wochen Mietgeld, selbst wenn es sich um eine dreckige Einzimmerwohnung in einer fragwürdigen Gegend handelte.
Bradleys Apartment war eines von vielen in einer langen Reihe ebenso winziger Mietwohnungen eines tristen Betonblocks. Eigentlich sah das Gebäude mit den durchnummerierten Eingangstüren eher wie ein Motel aus. Vom überdachten Gehsteig davor aus rankte sich Jasmin die schmiedeeisernen Gitterstäbe hinauf. Sicherlich ein hübscher Anblick für jemanden, der nicht wusste, dass dieses Gewächs hier wie Unkraut wucherte. Wenn niemand die Pflanze zurückschnitt, würde sie den verfluchten Zaun bald niederreißen.
Josh lehnte außen an der Wand neben der dritten Tür in der Reihe. »Deine Dienstbeflissenheit ist beeindruckend«, raunte er Elise zu, während sie anklopfte. »Unangebracht, aber beeindruckend.«
Elise warf ihm einen raschen Blick zu. »Das ist die übliche Vorgehensweise bei der Polizei, Wolf. Es wird eben erwartet, sich in der Nachbarschaft umzuhören.«
»Ich weiß. Aber ich weiß auch ganz genau, was uns diese übliche Vorgehensweise in den meisten Fällen bringt.« Nie kam es vor, dass irgendwer etwas gesehen oder gehört hatte – jedenfalls nicht in Gegenden wie diesen. Die Leute hatten genügend anderen Ärger um die Ohren und Rechnungen zu begleichen, allein die Miete zusammenzukratzen, war für sie schwer genug. Selbst wenn sie etwas gesehen oder gehört hatten, scheute die Hälfte von ihnen aus Angst eine Antwort. Die andere Hälfte hatte noch ein Hühnchen mit der Polizei zu rupfen und behielt die Information aus reiner Bosheit für sich.
Josh blickte auf die Uhr. »Wenn du an Türen klopfen, dich anschreien lassen und einen Monat zurückliegende Beschwerden wegen Ruhestörung entgegennehmen möchtest, dann bitte. Ich denke allerdings, wenigstens einer von uns sollte in die Zentrale zurückfahren und im Dunstkreis von Ms Bradley ermitteln oder zumindest ihren Chef anrufen.«
»Und das wärst dann du, hab ich recht?«, fragte Elise und klopfte erneut an die Tür.
»Du bist schließlich diejenige, die so versessen auf das Standard-Polizeiprozedere ist«, gab Josh achselzuckend zurück.
Die Tür schwang auf. Der Mann, der vor ihnen stand, war ungefähr zweieinhalb Zentimeter kleiner als Elise, also etwa eins achtundsechzig groß. Sein schütteres Haar war grau und kurz geschnitten, der Schnurrbart wucherte hingegen umso üppiger an beiden Mundwinkeln hinab und verlieh ihm das Aussehen von Dr. Fu Man Chu. Zur tief sitzenden Khakihose trug er ein schlichtes weißes T-Shirt und ihn umgab ein Duft nach Zigaretten und Aqua-Velva-Aftershave. Josh bekam Heimweh. Dieser Kerl könnte der Doppelgänger von seinem Onkel Dean sein.
Elise zückte ihre Marke.
»Da schau an, die Polizei«, sagte Onkel Deans Doppelgänger. »Und ich habe gar keinen Kuchen da.«
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte Elise. »Wir müssen auf unsere Linie achten.«
Der Mann lachte
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