Im Netz der Angst
scheuten direkte Auseinandersetzungen. Wie Elise treffend bemerkt hatte, musste dem jedoch nicht immer so sein. Wenn es für Lois hart auf hart gekommen war und sie die Dawkins tatsächlich umgebracht haben sollte, dann wäre sie von einer Wirtschaftskriminellen zur Gewaltverbrecherin geworden. Einen Polizisten zu erschießen wäre ein weiterer großer Schritt, aber jemanden, dem lebenslänglich drohte, sollte man nie unterschätzen. In so einer Lage waren alle Menschen unberechenbar.
Hin und wieder wollte Josh einen dieser Kerle am liebsten durchschütteln. Wollten sie etwa wirklich lebenslänglich in den Bau wandern? War dieses Sixpack Bier, das sie im Supermarkt hatten mitgehen lassen, eine Haftstrafe von fünfundzwanzig Jahren wert? Viele dieser Wiederholungstäter dachten kein Stück weiter als bis zum nächsten Schluck, der ihnen die Kehle hinunterrann, oder den nächsten Rausch, den ihnen ihr Gras oder das Chrystal Meth verschaffte, wodurch sie ihre Probleme für kurze Zeit verdrängen konnten. Sie vergaßen darüber, dass ihre Probleme anschließend zehnmal schlimmer sein würden. So weit voraus dachten sie nicht. Für sie zählte nur der nächste Sechserpack Bier oder der nächste Zug aus ihrer Crackpfeife.
»Ms Bradley«, rief Elise und hämmerte an die Tür. »Machen Sie auf, hier ist die Polizei! Wir müssen mit Ihnen reden.«
Josh lauschte angestrengt, konnte jedoch nichts hören. Lois Bradley war entweder nicht da oder sehr gut darin, sich ruhig zu verhalten.
Elise klopfte noch einmal. »Polizei! Ms Bradley, machen Sie jetzt die Tür auf!«
Wieder warteten sie einen Moment. Immer noch nichts. Elise nickte ihm zu und er langte nach der Klinke. Sie gab unter seiner Hand nach – die Tür war nicht verschlossen. Er hob den Blick und schaute Elise mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie hineingehen sollten. Er würde oben sichern, sie unten, da Josh wesentlich größer war als sie.
Josh formte ein »Eins, zwei, drei!« mit den Lippen, dann drückte er die Tür auf.
7
Aimee stellte ihre Notizen zu dem Patienten fertig, den sie am Nachmittag behandelt hatte. Er war wegen einer Verabredung mit einer Frau, die er bei einer Partnerbörse im Internet kennengelernt hatte, in heller Aufregung gewesen. Manchmal hatte Aimee den Eindruck, sie sollte all den Dating-Websites Kommission zahlen, denn sie bescherten ihr jede Menge Arbeit.
Heute hatte sie sich jedoch nur mit Mühe auf die Arbeit konzentrieren können. Seit Marians Bemerkung über Taylors Wesensveränderung nach dem Umzug der Familie nach Sacramento juckte es sie in den Fingern, in ihre Akten zu schauen. Möglicherweise war genau das die entscheidende Information, mit deren Hilfe sie die anderen Puzzleteile zusammenfügen konnte.
So früh ging sie sonst nie nach Hause, doch sie war erschöpft. Also klappte sie ihre Akten zu und stopfte sie in ihre Handtasche. Sie würde sie sich zu Hause ansehen, wenn sie die Augen lange genug offen halten konnte.
Im Warteraum kämpfte Julie O’Neil – eine der Therapeutinnen, mit denen Aimee sich die Praxisräume teilte – gerade mit dem Wasserspender. Aimee ließ die Aktentasche fallen und eilte ihr zu Hilfe. Gemeinsam setzten sie die Nachfüllflasche auf.
Julie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Danke. Ich dachte schon, sie fällt mir runter.«
»Du hättest jemanden um Hilfe bitten sollen«, sagte Aimee. »Diese Dinger sind schwer wie Blei.«
Julie verzog das Gesicht. »Louis und Carol sind schon nach Hause gegangen und ich wollte dich heute nicht mit so etwas belästigen.«
»Mir geht’s gut. Ich bin müde, aber ansonsten geht’s mir gut.«
»Bist du sicher?« Julie legte Aimee eine Hand auf den Arm. »Das ist bestimmt nicht leicht für dich.«
»Für mich ist es leichter als für Taylor.« Aimee schloss einen Moment lang die Augen und versuchte das Bild von Taylor abzuschütteln, wie sie mit blassem, ernstem Gesicht aus dem Mercy General abgeholt und für unbestimmte Zeit ins Whispering Pines gebracht wurde.
Als Aimee die Augen wieder öffnete, sah Julie sie prüfend an. »Hat sie es getan, Aimee? Hat sie ihre Eltern ermordet?«
»Nein. Ganz sicher nicht. Taylor ist nicht gewalttätig.« Aimee zwang sich dazu, das zu glauben. Könnte Taylor in diese Tat verwickelt sein? Detective Wolf hatte gesagt, sie sei eine Verdächtige, aber wie sollte das möglich sein?
Julie ließ sich in einem der Polstersessel des Wartezimmers nieder. »Bist du
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