Im Netz der Angst
auf der Hut. Längst nicht mehr so unbedarft und vertrauensselig wie früher. Das hatte Kyle ihr gänzlich genommen – so wie sie ihm einige Monate später mithilfe der Behörden seine Freiheit.
Zudem bestand auch die Möglichkeit, dass sie sich das alles nur einbildete. Sie berührte ihren Nacken dort, wo sich die feinen Härchen aufstellten, sobald sie allein irgendwo entlanglief, wurde dieses ungute Gefühl jedoch nicht los.
Selbst während Kyles Klinikaufenthalt hatte sie sich fortwährend beobachtet, verfolgt und gejagt gefühlt. Sie war schreckhaft und einfach unausstehlich gewesen. Das Gefühl hatte Danny überdauert. Danny mit seinem mitfühlenden, aber auch mitleidigen Blick, der ihr in die Seele schnitt. Aimee biss die Zähne zusammen. Sie wollte nicht bemitleidet werden. Sie wollte von niemandem bedauert werden. Ihr ging es gut. Sie brauchte nur noch mehr Zeit. Danny hatte das jedoch nicht verstanden. Er hatte es irgendwann nicht länger versuchen wollen und war gegangen.
Sie schüttelte sich. Natürlich weckte es alte Ängste, jetzt wieder von einer außer sich geratenen Patientin angegriffen zu werden, das nannte man Retraumatisierung. Genau deswegen litt die nette junge Buchhalterin, die jeden Freitagnachmittag zu Aimee kam, unter Platzangst. Jedes Mal, wenn sie an einen dunklen abgeschlossenen Ort gehen musste, durchlebte sie erneut die Strafe ihrer Mutter, die sie als Kind in den Schrank gesperrt hatte. Sie hyperventilierte, sobald sie einen Koffer aus dem Keller ihres Wohnhauses holen musste. Obwohl ihr klar war, dass ihr dort keinerlei Gefahr drohte. Sie wurde dann wieder zu dem sieben Jahre alten Mädchen, das gefangen war und nicht wusste, ob es jemals wieder dort herausgeholt werden würde.
Und genau das, so vermutete Aimee, war auch mit Taylor geschehen.
Immerhin war es von Vorteil, dass Aimee und die Buchhalterin genau wussten, was ihr ursprüngliches Trauma ausgelöst hatte. Sie waren sich im Klaren darüber, warum sie sich so verhielten, wie sie es taten, und das war schon ein großer Schritt auf dem Weg, es zu verarbeiten. Taylor hingegen hatte ihrem Verhalten selbst ebenso verständnislos wie ihre Eltern gegenübergestanden.
Aimee fuhr in die Tiefgarage ihres Bürogebäudes, schnappte sich ihre Unterlagen und die Handtasche, entriegelte dann erst die Türen und stieg aus. Ihr Verfolgungswahn war einfach dem vielen Stress und der Anspannung geschuldet. Hinzu kam dieses schreckliche Erlebnis vorhin, das alte Erinnerungen geweckt hatte. Wenngleich sich das mulmige Gefühl durch diese Logik nicht restlos vertreiben ließ, so war es für den Augenblick doch zumindest gemildert.
Sie verriegelte den Wagen und machte sich auf den Weg zum Treppenhaus. Dabei sagte sie sich immer wieder, dass sie in Sicherheit war, während ihre Finger das Pfefferspray suchten.
Als Aimee bei ihrem Büro angelangt war, schoss ein junges Mädchen auf sie zu, das im Flur vor der Tür gewartet hatte. Es mochte sechzehn oder siebzehn sein, obwohl das bei der vielen weißen Schminke schwer zu sagen war. »Wo ist Taylor?«, presste sie hervor. »Was haben die mit ihr gemacht? Wo zum Teufel steckt sie?«
11
Nachdem er mit der Schwester von Lois Bradley telefoniert hatte, stand Josh auf und wandte sich über die Trennwand seiner Bürozelle hinweg an Elise. »Die Schwester lügt.« Niemand wollte zugeben, Lois gesehen zu haben, seit sie aus ihrem Viertel verschwunden war. »Sie behauptet, dass sie seit über einer Woche nichts mehr von Lois gehört oder sie gesehen hätte, aber es klang wie auswendig gelernt. Ich kaufe ihr das nicht ab.«
»Willst du das überprüfen?«, bot Elise an.
»Was haben wir sonst?« Die Spurensicherungsexperten hatten wie verrückt geackert und so langsam trudelten die Ergebnisse ein. Bis Josh und Elise jedoch herausgefunden hatten, welche der gesammelten Spuren relevant waren, konnten sie damit nicht viel anfangen.
»Doc Halpern hat angerufen. Ausgehend von Orrin Dawkins Schädelverletzung muss unser Täter über eins achtzig groß sein.« Seine Partnerin trommelte mit ihrem Stift auf dem Schreibtisch herum.
»Damit ist das Mädchen aus dem Schneider.« Taylor Dawkin war gerade mal eins dreiundsechzig.
»Kommt drauf an, wie groß ihr Freund ist«, sagte Elise und blätterte eine Aktenmappe durch. »Clyde hat die Weinflasche zusammengebastelt, mit der Taylor sich die Verletzungen zugefügt hat.«
Josh zog eine Braue hoch. »War es ein guter Jahrgang?«
»Es handelt sich um eine
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