Im Netz der Angst
Abgrund gerissen zu werden, sobald die von ihr selbst errichteten emotionalen Schutzschilde nachgaben. Möglicherweise war ja genau das geschehen, als sie den Mord an ihren Eltern miterlebt hatte, und so war Taylor in den eisigen Schneemassen untergegangen, weil niemand da war, um ihr zu helfen. Könnte das irgendwie mit diesem merkwürdigen Muster aus Kreisen und Vierecken zusammenhängen? Aimee konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, was diese Symbole bedeuteten.
Allerdings war sie in ihren Unterlagen auf eine interessante Begebenheit gestoßen. Während einer Therapiesitzung hatte sie Taylor gefragt, was sie von dem Umzug nach Sacramento hielt. Das Mädchen hatte daraufhin behauptet, sich nicht besonders gut an diese Zeit erinnern zu können. Auf Aimees Drängen hin hatte Taylor nur hinzugefügt, dass Sacramento schon damals genauso beschissen gewesen wäre wie jetzt – eine ihrer typischen Aussagen. Sie fand alles Mögliche an ihrem Leben beschissen.
Aimee klopfte nachdenklich mit dem Stift gegen ihre Zähne. Irgendetwas Traumatisches war in jener Zeit vorgefallen, in der Taylors Familie nach Kalifornien gezogen war, davon war sie überzeugt. Taylors Erinnerungslücke und der von Marian Phillips erwähnte Wesenswandel nach dem Umzug – beides zusammen war wie ein riesiges rotes Ausrufezeichen. Und vor sechs Monaten musste irgendetwas geschehen sein, das die Erinnerungen wieder geweckt und sie in eine Abwärtsspirale gestürzt hatte.
In ihren Gesprächen mit den Dawkins hatte Aimee nichts darüber herausfinden können. Als sie damals ein wenig nachbohrte, war Orrin Dawkin sofort aufbrausend geworden.
»Worauf genau wollen Sie hinaus, Doktor?«, hatte Orrin Dawkin mit gerunzelter Stirn zurückgefragt. »Wenn ich wüsste, dass meiner Tochter vor Jahren etwas zugestoßen wäre, meinen Sie nicht, dann hätte ich längst was unternommen?«
»Manchmal wissen die Eltern überhaupt nicht, dass etwas geschehen ist oder können es nicht beweisen, sodass sie vor konkreten Maßnahmen zurückschrecken, weil sie nicht nur aufgrund eines unguten Gefühls oder eines Verdachts hin handeln wollen. Kennen Sie solche Gedanken? Kam es vor, dass Sie wegen ihrer Tochter beunruhigt waren? Oder dass Taylor übermäßige Angst vor etwas oder jemandem gezeigt hat?«
»Wie wäre es, wenn Sie aufhören, um den heißen Brei herumzureden, Dr. Gannon? Auf was spielen Sie hier an? Wollen Sie sagen, dass jemand meinem kleinen Mädchen etwas angetan hat?« Mr Dawkin hatte sich mit vor Wut zusammengekniffenen Augen vorgebeugt und sie angestarrt. Mrs Dawkin hatte ihm eine Hand auf den Arm gelegt.
Wollte sie ihn zurückhalten oder ihn nur beruhigen? Wie dem auch sei, ihre Reaktion auf diese plötzliche Aggression ihres Mannes war äußerst aufschlussreich gewesen.
»Ja«, hatte Aimee geantwortet, ohne sich einschüchtern zu lassen. »Ich befürchte, dass jemand Taylor sexuell missbraucht haben könnte.«
»Und Sie denken, dass ich das getan hätte?« Dawkin war trotz des Griffes seiner Frau beinahe aus dem Stuhl aufgefahren. »Mit meinem kleinen Mädchen?«
Die Tatsache, dass Dawkin selbst sexuellen Missbrauch zum Thema gemacht hatte, ließ Aimee daran zweifeln, dass er sich an seiner Tochter vergangen hatte, wenngleich Väter normalerweise die Ersten waren, die bei einem solchen Verbrechen verdächtig waren. Es machte Aimee krank, wie viele Männer versuchten, die Vergewaltigungen ihrer Töchter, Stieftöchter, Enkelinnen und Nichten zu rechtfertigen, nachdem sie bereits eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatten. Aber Mr Dawkin schien nicht daran gelegen, hier irgendetwas zu rechtfertigen. Er wirkte eher, als würde er sich gleich übergeben müssen.
»Nicht zwangsläufig Sie, Mr Dawkin«, hatte Aimee erwidert. »Gibt es Vorkommnisse, die Taylors Verhaltensveränderung in letzter Zeit ausgelöst haben könnten, weil sie ihre Tochter an etwas in der Vergangenheit erinnert haben?«
Mrs Dawkin hatte den Kopf geschüttelt. »Ich habe mir deswegen selbst schon den Kopf zerbrochen. Wir führen unser eingespieltes Alltagsleben, an dem sich eigentlich nie viel ändert. Ich kann mir nicht vorstellen, welche Veränderung Taylor derartig aus der Bahn geworfen haben sollte.«
Zum Abschied hatten beide Aimee versprochen, weiter über ihre Fragen nachzudenken und sich zu melden, falls ihnen doch noch etwas einfiel. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie Orrin und Stacey Dawkin gesehen hatte.
Sie schauderte. Hatten die Dawkins sich
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