Im Netz der Meister (German Edition)
auch. Ich wurde nicht missbraucht, und meine Eltern haben sich um mich gekümmert, du weißt das genau, du warst oft genug bei uns zu Hause. Natürlich machte man damals nicht einen solchen Aufstand mit den Kindern wie wir heute. Wenn ich daran denke, wie intensiv Gerald und ich uns um Jenny und Julia kümmern ... Wir waren als Kinder einfach da, wir hatten unsere Pflichten, und die haben wir erfüllt. Ich musste mein Zimmer in Ordnung halten, meine Kleidung schonen, meine Schule schaffen und sonntags mit den Eltern spazieren gehen. Ich hab auf meine Schwestern aufgepasst und meiner Mutter im Haushalt geholfen. Bei uns war alles ganz normal, und mir hat nichts geschadet. Nichts Dramatisches, kein Trauma, keine unverarbeiteten Erlebnisse.«
Britta überlegte und runzelte dabei wieder die Stirn. »Bist du sicher? Was fällt dir zum Thema Aufmerksamkeit ein?«
»Ach komm. Das ist doch Unsinn. Nichts weiter fällt mir ein. Wie kommst du darauf? Ich war ein anspruchsloses Kind. Ich brauchte keine besondere Aufmerksamkeit von meinen Eltern, ich hatte Freundinnen. Und später waren eigentlich immer genügend Jungs um mich herum, die sehr aufmerksam waren.«
»Du hast dafür gesorgt, dass sie auf dich aufmerksam wurden.« Britta grinste. »Oder warum hattest du lange Haare, lange Fingernägel, trugst hohe Schuhe und kurze Röcke?«
»Weil das damals modern war.«
»Maxi-Röcke und Schlabberblusen waren auch modern, Simone. Nee, du wolltest auf dich aufmerksam machen, wolltest im Mittelpunkt stehen. Ist dir ja auch gelungen. Bei den Jungs jedenfalls.«
Britta zündete zwei Zigaretten an, behielt eine lässig im Mundwinkel und reichte Simone die andere über den Tisch.
»Worauf willst du hinaus, Britta?«
»Du hast dich durch dein Outfit in der Schule in den Mittelpunkt gestellt. Was hast du zu Hause getan, um im Mittelpunkt zu stehen?«
»Du meinst, um Aufmerksamkeit von meinen Eltern zu bekommen?«
»Ja. Oder anders gefragt: Wann standest du zu Hause im Mittelpunkt?«
Simones Antwort kam prompt: »Wenn ich was angestellt hatte natürlich. Wenn ich zu spät kam oder eine Arbeit verhauen hatte zum Beispiel.«
Britta verdrehte die Augen. »Und was passierte, wenn du was angestellt hattest?«
»Entweder bekam ich eine gescheuert oder Hausarrest. Oder ellenlange Vorträge darüber, wie Mädchen sich zu benehmen haben. Oder es ...«
»Stopp!«, unterbrach Britta. »Ohrfeigen und Schläge, da haben wir’s doch!«
Simone wurde ärgerlich. »Ach, so ein Quatsch. Alle Kinder kriegten damals was an den Hals, du etwa nicht? Nein, deine Mutter war anders. Aber du warst ja auch nicht die Älteste von drei Mädchen. Die Ältesten haben es immer schwerer. Und wenn du meinst, dass die Backpfeifen meiner Mutter was damit zu tun haben, dass ich gestern ... So ein Blödsinn. Nimm›s mir nicht übel, Britta, aber das sind Stammtischweisheiten, Blödzeitungsniveau. Ich werde schon noch rausfinden, warum ich das wollte und warum ich es noch mal will.«
Als Simone aus dem Taxi stieg, sah sie Gerald auf einem Campinghocker vor dem Jägerzaun sitzen, zwischen seinen Füßen stand ein Farbeimer, in der Hand hielt er einen Pinsel. Er stand auf und kam mit breitem Lächeln auf sie zu. Er trug eine alte Jeans, seine Malerhose, wie er sie nannte, und ein blaues Sweatshirt. Sein Haar war zerzaust, sein Blick sonnig und ahnungslos.
Wie vertraut er mir ist , dachte Simone.
»Na, Liebes, wie schön, dass du wieder da bist!«
Er legte den Arm um sie und gab ihr ein Küsschen auf den Mund. Simone roch die Holzlasur, mit der er den Zaun gestrichen hatte. Aus dem geöffneten Fenster im Obergeschoss klang laute Musik, Robbie Williams.
Gerald folgte ihrem Blick.
»Ich hab Jenny schon ein paar Mal gesagt, sie soll das Gedudel leiser machen. Sie unterhält wieder die ganze Nachbarschaft. Kann nicht mehr lange dauern, bis sich einer beschwert.«
»Ist Julia auch zu Hause?«
Simone hatte Angst, ihren Töchtern in die Augen zu sehen. Würden sie spüren, was sie getan hatte?
»Nein, Julia ist in der Stadt. Zum Essen ist sie wieder da. Bevor wir reingehen, muss ich dir was zeigen. Lass den Koffer hier stehen, ich hab ne Überraschung für dich.«
Gerald hatte den Pinsel auf den Boden gelegt und hielt ihr mit den Händen die Augen zu. Sie atmete die Mischung aus dem Geruch von Holzlack und seinem Parfum ein. Antaeus von Chanel. Sie liebte diesen Duft an ihm, er benutzte ihn seit Jahren, obwohl er sündhaft teuer war und sie ihn sich
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