Im Netz des Spinnenmanns: Thriller (German Edition)
Handgelenk wickeln konnte, aber er schien nicht enden zu wollen.Als sie es endlich geschafft hatte, ging sie auf die Knie und riss das Klebeband mit den Zähnen ab. Der Arm war jetzt frei, aber dafür tat er entsetzlich weh. Eine Kombination aus Adrenalin und Entschlossenheit trieb sie voran. Mit der rechten Hand tastete sie in ihrer schmutzigen Unterwäsche nach dem Messer, auf dem sie seit mehr als achtundvierzig Stunden gesessen hatte. Die Panik drohte sie zu überwältigen, doch dann berührten ihre Fingerspitzen den Griff. Sie setzte sich auf den Boden, klappte das Messer auf und zog die Knie an die Brust, damit sie den Draht und das Klebeband um ihre Fußknöchel durchtrennen konnte.
Sie riss den letzten Rest Klebeband ab, legte das Messer aufs Bett und richtete sich mit Hilfe des unverletzten Arms auf. Ihre Beine zitterten und drohten unter ihr wegzuknicken, als sie das Messer wieder an sich nahm und sich in Richtung Tür bewegte. Beim Gehen fiel sie fast hin. Da sie nichts sehen konnte, streckte sie den Arm vor sich aus.
Aber zumindest war sie frei.
Hayley hatte bisher in ihrem Leben vieles als gegeben hingenommen, aber damit war jetzt Schluss. Sie konnte ihre Arme bewegen und gehen. Nie wieder würde sie nach Hause zurückkehren und sich von den drogensüchtigen Freunden ihrer Mutter missbrauchen lassen. Sie würde ihre Mutter verlassen und keinen Gedanken an ihr Zuhause verschwenden. Nie wieder würde sie zulassen, dass andere Menschen sie anfassten.
Noch drei Schritte, dann berührten ihre Fingerspitzen eine Wand. Sie tastete herum, bis sie den Türgriff fand. Ihre Finger krallten sich um das kalte Metall und das Herz schlug ihr gegen die Rippen. Sie drehte den Knauf. Nichts geschah. Abgesperrt. Dieser verdammte Dreckskerl.
Das Fenster. Sie musste unbedingt das Fenster finden.
Langsam tastete sie sich an der Wand entlang, Zentimeter um Zentimeter, sorgfältig darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Falls das Fenster verschlossen war, würde sie nach etwas suchen, womit sie die Scheibe einschlagen konnte.
Sie hatte schon öfter Fenster eingeschlagen. Sie würde das Leintuch vom Bett nehmen, es um ihre unverletzte Hand wickeln und mit der Faust das Glas zerschmettern. Und dann würde sie um ihr Leben rennen.
Sie konnte es schaffen.
Sie konnte fliehen. Genau wie es Lizzy damals getan hatte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, ein klares Ziel vor Augen zu haben. Sie musste entkommen. Sie wollte aufs College gehen. Sie wollte leben.
Plötzlich stieß sie mit dem Knie an einen Stuhl. Verdammt. Für einen Augenblick stand sie still und betete inständig, dass er nichts gehört hatte. Im Dunkeln ging sie um den Stuhl herum und bewegte sich langsam vorwärts. Als ihr nackter Fuß die Schlange berührte, kickte sie das Tier aus dem Weg. Ekelhaft.
Mit der Rechten tastete sie sich voran.
Ruhig bleiben. Bloß keinen Lärm machen und das Monster wecken.
Wenn er spitzkriegte, dass sie sich befreit hatte, würde er sie dafür bestrafen. Sie kapierte zwar immer noch nicht, warum er auf sie und die anderen Mädchen wütend war, aber er hatte ihr deutlich gemacht, dass er von ihr erwartete, sich an seine Regeln zu halten. Flucht war gleichbedeutend mit Ungehorsam. Wenn er von ihrem Fluchtversuch Wind bekam, würde ihm das einen Vorwand liefern, sie noch mehr zu foltern.
Das Zimmer konnte doch nicht so groß sein. Wo zum Teufel war das Fenster? Sie wusste, dass sich auf dem Tisch neben dem Fenster eine Lampe befand. Sie musste aufpassen, wenn …
Klick.
Das Licht ging an.
Sie drehte ruckartig den Kopf.
Das Monster saß auf der Bettkante. Ohne Maske, ohne Bart. Wie zum Teufel hatte er es geschafft, unbemerkt ins Zimmer zurückzukommen? Sie war nur ganz kurz eingenickt … und hatte darauf gewartet, dass er dasselbe tat.
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«, fragte er.
Sie griff zum Messer, ließ die Klinge aufschnappen und richtete die Spitze auf ihn.
»Ich muss schon sagen, ich hätte nie gedacht, dass du immer noch eine Waffe bei dir trägst. Du bist ein cleveres Mädchen.«
»Ich benutze das Ding nur ungern, aber ich tu’s, wenn ich muss«, sagte sie. »Sie sehen blass aus. Mit der Stichwunde hätten Sie vielleicht doch lieber ins Krankenhaus gehen sollen.«
»Schau dir nur an, was du hier angerichtet hast.« Er sah sich im Zimmer um. Das Funkeln ihrer scharfen Klinge schien ihn weniger zu stören als die Unordnung auf dem Fußboden.
Sie richtete ihren Blick auf seine
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