Im Netz des Teufels
Meter von der Garage entfernt waren zwei Wendeplätze.
Michael wollte gerade den Hügel hinuntergehen und einen Bogen zur anderen Seite des Hauses schlagen, als er rechter Hand etwas Goldenes in der Spätnachmittagssonne funkeln sah. Er drehte sich um und legte eine Hand auf die Pistole in seiner Tasche.
Es war Charlotte. Da stand tatsächlich Charlotte. Sie pflückte Löwenzahn und stellte ihn in ein kleines Glas. Sie stand genau vor ihm. Einen kurzen Augenblick glaubte Michael, er leide vielleicht an Halluzinationen. Wie konnte das sein? War das alles nur ein verrückter Schabernack gewesen? Nein. Er hatte Viktor Harkovs Leichnam gesehen. Das hatte er sich nicht eingebildet.
Michael steckte die Waffe hinten in den Hosenbund und stieg langsam den Hügel hinauf. Am Rande des Grundstücks stellte er sich hinter einen hohen Ahornbaum.
Charlotte hob den Blick und sah ihn. »Daddy!«
Sie ließ die Blumen fallen und rannte durch den Garten. Michael kniete sich hin und schloss sie in die Arme.
»Mein Schatz!«, sagte Michael. Tränen traten ihm in die Augen. Er hatte sie nur ein paar Stunden nicht gesehen, doch sie erschienen ihm wie eine Ewigkeit. Er beugte sich zurück und schaute Charlotte in die Augen. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ist es«, erwiderte sie. Die förmliche, korrekte Charlotte.
»Wo sind Mama und Emily?«
Charlotte zeigte über die Schulter aufs Haus. Michael nahm sie an die Hand und versteckte sich mit ihr hinter einer Hecke, sodass man sie vom Fenster aus nicht sehen konnte. »Geht es ihnen gut?«
Charlotte nickte.
»Was ist ... mit diesem Mann?« Michael wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. Er wollte nicht alles noch schlimmer machen. »Ist der Mann noch da?«
Charlotte dachte kurz nach. Ihr Gesicht verdunkelte sich, doch dann hellte es sich sofort wieder auf, und sie nickte noch einmal.
»Ist er allein?«
»Ja, der andere Mann ist gegangen, glaube ich.«
»Okay, mein Schatz.« Michael drückte seine Tochter an sich und schaute sie sich genau an. Sie hatte keine sichtbaren Verletzungen. Es sah nicht so aus, als hätte Charlotte geweint, und sie wich auch nicht zurück, weil ihr etwas wehtat. »Okay.«
Michael stand auf, nahm seine Tochter an die Hand und schaute sich im Garten um. Es sah alles so aus wie heute Morgen, als er das Haus verlassen hatte. Er spähte über die Hecke. Er sah niemanden. Michael beschloss, Charlotte zum Wagen zu bringen und zurückzukehren.
»Komm, wir machen einen Spaziergang.«
Charlottes Blick wanderte zum Haus und zurück zu Michael. »Wo gehen wir hin?«
»Wir besuchen Shasta. Du magst Shasta doch, nicht wahr?«
»Ja.«
»Weißt du genau, wo Mama und Emily jetzt sind?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Und dieser Mann? Weißt du, wo er ist?«
Charlotte schien über die Frage nachzudenken. Michael wollte die Frage gerade wiederholen, als er auf der linken Seite des Hauses, neben der Garage, einen Schatten sah. Michael duckte sich und spähte durch die Hecke. Es war Emily. Sie stand an der Ecke des Hauses und schaute in den Wald. Ein paar Sekunden später sah Michael Abby.
Ehe Michael es verhindern konnte, hatte er sich schon aufgerichtet und trat mit Charlotte hinter der Hecke hervor. Abby erblickte ihn. Sie schüttelte den Kopf. Michael sah, dass sie mit den Lippen das Wo r t nein formte.
Eine Sekunde später bog ein Mann um die Ecke. Michael wusste, dass es Aleks war. Er war groß und hatte breite Schultern. Er trug einen schwarzen Ledermantel.
Die beiden Männer schauten einander an und erkannten in diesem Augenblick die Seele des anderen.
Michaels Blick wanderte zurück zu Abby. Tränen liefen ihr über die Wangen. Einen entsetzlichen Augenblick lang sahen sie wie eine Familie aus: Vater, Mutter, Tochter – wie eine Vorstadtfamilie im Garten ihres Vorstadthauses, die sich vielleicht für einen Tag am Strand oder ein Picknick bereit machte.
Dann sah Michael einen silbernen Schimmer. Dort in der Hand des Mannes, nur wenige Zentimeter von Emilys Kopf entfernt, funkelte ein großes Messer. Der Mann zog Emily dicht an sich heran. Michael stockte das Blut in den Adern.
Er wusste nicht, wie lange sie dort an den gegenüberliegenden Seiten des Grundstücks standen. Niemand bewegte sich. Michael musste eine Entscheidung treffen, die schwerste Entscheidung seines Lebens. Er wusste nicht, ob es die richtige war, aber es schien die einzige zu sein, die er treffen konnte.
Er nahm Charlotte auf den Arm, drückte sie an sich und lief mit ihr
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