Im Netz des Teufels
Betrieb. Sie hatten sich alle hier eingefunden, um den stellvertretenden Staatsanwalt Rupert White zu verabschieden, der in den Ruhestand ging. Den Gerüchten zufolge hatte er einen Job bei einem Wallstreet-Unternehmen angenommen.
Michael schaute sich um und sah viele Leute von Rang und Namen, die auf der politischen Bühne in Queens das Sagen hatten.
In der ersten Stunde musste Rupert White sich die üblichen Frotzeleien gefallen lassen. Kollegen aus der Staatsanwaltschaft, Verteidiger, Stadträte und Richter erzählten Geschichten und Anekdoten und sangen nicht jugendfreie Lieder. White machte gute Miene zum bösen Spiel und lachte gelegentlich. Nachdem in der zweiten Stunde genügend Jameson unter der Brücke des Anstands hindurchgeflossen war, wurde der Ton derber. Es wurden eine Reihe von Episoden zum Besten gegeben, die keinesfalls für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Unter anderem erinnerte jemand an die Zeit, als Rupert White von einer verwirrten Geschworenen bei einem länger zurückliegenden Prozess verfolgt worden war, und natürlich kamen auch peinliche Flirts mit Kolleginnen aufs Tapet.
»Ich glaub’s nicht. Tommy Jesus und der Stone Man«, sagte jemand hinter Tommy und Michael.
Für Michaels Spitznamen, der Stone Man, gab es zwei Gründe. Zunächst hatte er ihn verpasst bekommen, weil er estnischer Herkunft war. Viele einfache Leute, die er in seiner Jugend kennengelernt hatte und von denen er die meisten später vor Gericht wiedertraf, hatten keine Ahnung, was oder wo dieses »Estonia« sein sollte. Sie konnten den Namen nicht einmal aussprechen. Der zweite Grund war später Michaels Ruf als knallharter Ankläger. Als er größere Fälle übernahm und auch gewann, musste er es mit immer härteren Kriminellen aufnehmen, jedenfalls mit denen, deren Verteidiger dumm genug waren, sie in den Zeugenstand zu rufen. Sogar in jener frühen Zeit jugendlicher Unbesonnenheit war Michael Roman durch nichts aus der Fassung zu bringen und unerschütterlich wie ein Fels. Daher der Stone Man.
Auch Tommys Spitzname Tommy Jesus hatte eine doppelte Bedeutung. Die erste lag durch seinen Nachnamen Christiano auf der Hand. Hinzu kam sein Ruf in der Staatsanwaltschaft als Ankläger, der einem Fall, der nicht gelöst worden war oder dessen Spuren allmählich im Sande verliefen, wieder neues Leben einhauchen konnte – wie Jesus, der Lazarus von den Toten auferweckte.
Michael drehte sich um. Hinter ihm stand eine beschwipste Gina Torres. Als Michael in der Abteilung »Kapitalverbrechen« angefangen hatte, lernte er Gina Torres, eine Anwaltsgehilfin, kennen. Sie war eine schlanke, langbeinige Schönheit mit einem Faible für enge Kostüme und teures Parfum. Jetzt, ein paar Jahre später, hatte sie zu einem Privatunternehmen gewechselt – das taten sie alle – und ein paar Pfund zugenommen, doch durchweg an den richtigen Stellen.
»Du siehst großartig aus«, sagte sie lallend zu Michael.
»Gina«, erwiderte Michael ein wenig erstaunt. »Du auch.« Das entsprach der Wahrheit. Die leicht gebräunte Haut, das glänzende schwarze Haar, der pastellfarbene Lippenstift. Dieser enge Rock.
»Ich hab gehört, du bist verheiratet«, sagte sie.
Michael und Gina hatten eine kurze, heiße Affäre gehabt, als er nach Kew Gardens gekommen war. Sie dauerte ein paar Monate und endete so abrupt, wie sie begonnen hatte. Doch Michael erinnerte sich noch an jede Verabredung, jeden Kuss in der Kantine, jede Begegnung im Aufzug. Er hielt seinen Ringfinger hoch. Zumindest hoffte er, dass es der Ringfinger war. Er war schon ein bisschen betrunken.
Gina beugte sich vor und drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund.
Michael fiel fast vom Hocker.
Gina trat zurück und strich mit der Zungenspitze über seine Lippen. »Du weißt nicht, was du verpasst.«
Als Michael sich wieder gefasst hatte, sagte er: »Irgendwie schon.«
Gina legte ihre Visitenkarte vor Michael auf die Theke, nahm eines der vollen Schnapsgläser, trank es aus und ging davon. Alle Männer an der Theke – im Grunde alle Männer im Austin Ale House – verfolgten die Szene.
Michael starrte Tommy an. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sprachlos.
»Mann!«, sagte Tommy. »Respekt!«
Michael nahm eine Serviette und wischte sich den Lippenstift vom Mund. Dann trank er einen Schnaps und schüttelte sich. »Abby wird es erfahren, nicht wahr?«
Tommy lachte und nippte an seinem Drink. »O ja. Das erfahren sie immer.«
9. Kapitel
In einer belebten Straße in Astoria
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