Im Netz des Teufels
er wissen musste, und dann mit ihm abrechnen.
Der große Mann drehte sich ein letztes Mal zu dem kunstvoll gearbeiteten schmiedeeisernen Tor mit dem von Eichenzweigen umrahmten blauen Löwen, dem Wappen Estlands, um. Dann warf er noch einen letzten Blick auf sein Haus auf dem Hügel, das nun im Schatten der blühenden Laubbäume stand. Er ging davon aus, dass sich sein Leben verändert haben würde, wenn er an diesen Ort zurückkehrte. Der Himmel würde klarer sein und die Luft wärmer. In den Wäldern würden zarte Stimmen singen – Kinderstimmen.
Er strich über das Glasfläschchen, das an einer silbernen Kette an seinem Hals hing und das mit Olgas Blut gefüllt war. Als es gegen die beiden anderen leeren Glasfläschchen stieß, klirrte es leise.
Mit seinen Töchtern, seinen geliebten Tütred , glaubte der große Mann, dass sich die Vorhersage von Koschtschei, dem Unsterblichen, erfüllen und er ewig leben würde.
Nein. Es war mehr als ein Glaube. Viel mehr.
Aleksander Savisaar wusste es.
3. Kapitel
Es war zwei Stunden her, dass die Party zu Ende gegangen war und alle Gäste sich verabschiedet hatten. Michael und Abby hatten inzwischen aufgeräumt. Jetzt sprachen sie mit ihren Töchtern ein ernstes Wort über die Grundregeln, die sie beachten mussten, wenn sie mit ihren neuen kleinen Autos fuhren: niemals in der Nähe der Straße fahren, immer Helme tragen, und besonders wichtig war, dass sie nach zwei Gläsern Traubensaft nicht mehr fahren durften.
Michael fand seine Erklärungen lustig, doch Abby konnte nicht darüber lachen. Sie war über die Geschenke ihres Bruders nicht besonders glücklich.
Michael schob die Jeeps zur Doppelgarage. Der Abend war ruhig. Die Abende waren immer ruhig hier. Durch die Bäume konnte er soeben die Lichter des Meisner-Hauses in vierhundert Metern Entfernung erkennen.
Michael hatte Mühe, in der vollgestellten Garage einen Platz für die kleinen rosaroten Jeeps zu finden. Als er zwei alte Doppeltüren aus dem Weg räumte, sah er es. Das Schild, das in der Bäckerei im Fenster gehangen hatte. Wie immer stieg Wehmut in ihm auf, und seine Gedanken wanderten die lange Straße der Erinnerungen hinunter.
Als Michaels Eltern Peeter und Johanna Romanov 1971 aus Estland emigriert und in die Vereinigten Staaten eingewandert waren, herrschten noch vollkommen andere Verhältnisse. Erst zwanzig Jahre später sollte die Sowjetunion zusammenbrechen, und aus einem Ostblock-Land zu fliehen war gefährlich und teuer.
In einer kleinen Wohnung über einem geschlossenen Ladengeschäft auf dem Ditmars Boulevard in der Nähe der Crescent Street in Astoria, Queens, ließen sie sich nieder.
Im Juli 1973 kam Mikhail Romanov in einem Krankenhaus in Queens zur Welt. Am nächsten Tag beantragte Peeter die Änderung des Nachnamens in Roman. Da der Kalte Krieg noch voll im Gange war, glaubte er, so ein russisch klingender und auch noch aristokratischer Name wäre für seinen Sohn nur hinderlich.
Mit einem Darlehen der Credit Union kauften Michaels Eltern zwei Jahre später den Laden unter ihrer Wohnung und eröffneten eine Bäckerei. Die Nachricht verbreitete sich schnell bei den Esten, Russen und Osteuropäern in der Nachbarschaft. In einer Gegend, in der es zahlreiche griechische und italienische Bäckereien gab, hatten sie jetzt eine Adresse, wo sie frisches Schwarzbrot, Pfefferkuchen, Piroshkis , Rugalah und zu Ostern ihr geliebtes Kulich bekommen konnten. Die Kunden mussten nun nicht mehr zum Rego Park fahren, um Kartoshka zu kaufen.
Die Pikk-Street-Bäckerei, die nach der Straße in Tallinn, in der Peeter Johanna den Heiratsantrag gemacht hatte, benannt worden war, wies noch weitere Besonderheiten auf. Dazu gehörten unter anderem die altmodischen Holzregale, die Leinentischdecken und die verführerisch schimmernden Bonbongläser, die bis oben hin mit einer riesigen Auswahl bunt verpackter Süßigkeiten gefüllt waren. Für Kinder war die Bäckerei ein wahres Paradies.
Noch etwas anderes trug zur Beliebtheit des Geschäftes bei, und zwar vor allem bei den jungen Müttern des Viertels. Das waren Johanna Romans exquisite estnische Spitzen. Wenn Michael sich liebevoll an seine Mutter erinnerte, sah er sie im Frühling und Sommer mit den glänzenden Stahlnadeln in den Händen auf der Feuertreppe sitzen und mit Nachbarn plaudern. Ihre Gobelintasche lag neben ihren Füßen, und die Einkaufstasche, auf der ein estnisches Bauernhaus aufgestickt war, stand neben ihr. Johanna strickte Babyschuhe,
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