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Im Netz des Teufels

Im Netz des Teufels

Titel: Im Netz des Teufels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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Decken, Mützen, Pullover und vor allem feine Haapsalu-Schals. Alles, was sie strickte, verschenkte sie.
    Johannas Spitzname für Michael, den sie niemals in Gegenwart seiner Freunde benutzte, war Nupp . Ein Nupp war eine besonders komplizierte Stricktechnik, bei der man mit der Nadel in der linken Hand fünf Maschen erfassen musste. Einige Frauen aus Johannas Kreis nannten sie »des Teufels Beitrag zum Stricken«, aber Johanna Roman benutzte das Wort immer als Kosenamen.
    Gute Nacht, mein kleiner Nupp , pflegte sie zu ihrem kleinen Sohn zu sagen.
    Michael schlief immer gut.

    Als Michael an einem eiskalten, unfreundlichen Wintertag im Jahre 1980 von der Schule nach Hause kam, saß ein Fremder in ihrer kleinen Küche über dem Geschäft. Es war ein großer, breitschultriger Mann mit einer breiten Stirn, hellgrauen Augen und einer tiefen Spalte im Kinn. Er trug einen fusseligen Wollmantel und Stiefel, deren Absätze abgelaufen waren. Er aß Sardinen aus der Dose. Mit den Fingern.
    Der Mann war Solomon Kaasik, ein Jugendfreund seines Vaters aus Tartu. Peeter Roman hatte dem Mann die Reise nach Amerika bezahlt.
    Viele Monate lang kam Solomon jeden Sonntag zum Essen und steuerte immer etwas zum Mittagsmahl bei. Oft brachte er Michael auch ein kleines Geschenk mit. Bis tief in die Nacht hinein trank er mit Michaels Vater Türi-Wodka und rauchte mit ihm Zigarren. Manchmal spielte Solomon abends mit Michael Schach, und manchmal ließ er den Jungen gewinnen.
    In dem Frühjahr, als Michael acht Jahre alt war, hörten die Besuche plötzlich auf. Michael vermisste den Mann, der so laut lachte und ihn immer auf seine breiten Schultern setzte, als wäre er ein Fliegengewicht. Schließlich fragte Michael, doch sein Vater antwortete ihm nicht. Eines Tages nahm Johanna den Jungen beiseite und sagte ihm, dass Solomon sich mit den falschen Leuten eingelassen habe, mit der Vory des Ortes. Michael wusste nicht genau, was die Vory war, aber er wusste, dass man Angst vor ihr haben musste. Da Michael keine Ruhe gab, erklärte Peeter ihm, dass Solomon in den Überfall auf eine Bank in Brooklyn verwickelt gewesen sei und dass dabei Menschen getötet worden seien. Jetzt, fuhr er fort, sei Solomon an einem Ort namens Attica, wo er sehr lange bleiben werde.
    Obwohl diese Ereignisse Peeter Roman furchtbar traurig stimmten, besuchte er Solomon oft. Als Michael neun Jahre alt war, bat sein Vater die Wärter, Michael zu Solomon zu lassen. Michael kam es vor, als sei Solomon dünner geworden, doch er sah härter aus. Er hatte neue Tattoos auf den Armen, und er lachte nicht mehr.

    Am 4. Juli 1983, ein paar Wochen vor seinem zehnten Geburtstag, saß Michael am Fenster und schaute auf den Ditmars Boulevard hinunter. Die Nachbarskinder unten warfen Cherrybombs, M-80-Böller und feuerten Raketen ab. Michael durfte das Haus nicht ohne seine Eltern verlassen, denn es kam immer wieder vor, dass ein Kind einen Finger oder ein Auge verlor oder noch Schlimmeres passierte. Daher lehnte Michael sich so weit wie möglich aus dem Fenster, und der Geruch des verbrannten Schießpulvers stieg ihm in die Nase. Das Geschäft schloss um sieben Uhr. Michael schaute alle paar Sekunden auf die Uhr. Um Punkt sieben lief er die Treppe hinunter.
    Zuerst glaubte er, er wäre versehentlich die Treppe zum Hof hinuntergestiegen, denn er hörte keine vertrauten Geräusche – Schüsseln, die ausgewaschen und weggestellt wurden, das Surren des Staubsaugers, Türen, die abgeschlossen wurden, Geld, das gezählt wurde. Nein, es war die Treppe zur Straße, und im Laden war alles ruhig.
    Da stimmte etwas nicht.
    Michael hockte sich auf die Treppe und schaute in den Laden. Das Plastikschild »Geöffnet«, das an der Tür hing, war noch nicht umgedreht worden. Das Neonschild im Fenster leuchtete noch.
    Als Michael den untersten Treppenabsatz erreichte, sah er es. Es war ein Bild, das sich für immer in sein Herz und sein Gedächtnis brannte.
    Die Bäckerei war voller Blut.
    Hinter der Theke, wo seine Mutter immer stand, mit den Kunden plauderte, Gebäck und Brötchen in weiße Schachteln legte, während ihr Lachen wie ein süßer Gesang den Verkehrslärm übertönte, war die ganze Wand blutrot. Die Kasse war von der Theke gerissen worden und lag leer auf der Seite wie ein aufgeschlitzter Hund. Michael sah die abgetragenen braunen Schuhe seines Vaters, die immer mit weißem Mehl bestäubt waren, hinter dem großen Backofen hervorlugen. Ringsherum war der verschüttete Zucker mit großen

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