Im Netz des Verbrechens
nicht.
Der Telefonhörer lag auf dem Schreibtisch. Sie stutzte. Ihr Aufseher hatte ihr ein Telefon gelassen? Sehr unvorsichtig. Oder war es eine Falle?
Immer wieder sah sie sich das Foto an. Es machte sie betroffen, gar wütend, dass er sie in einem ihrer verletzlichsten Momente so zur Schau stellte. Und überhaupt: Woher hatte er dieses Bild? Wer sollte sie da fotografiert haben? Hatte Oleg sie beobachtet? War er ihr zur Fabrik gefolgt? Oder war er da geblieben, nachdem er sich Pyschka geschnappt hatte, um ihre Besorgnis auf dieses Bild zu bannen? Was wollte er nur … Dieses viele Geld, wo er doch nach Pyschkas Verschwinden keinen Finger krumm machen wollte.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. So kam sie nicht weiter.
Sie griff zum Telefon. Der Überraschungsmoment wäre auf ihrer Seite. Sie würde Oleg anrufen, sich ahnungslos geben und versuchen herauszufinden, was hier vor sich ging. So vieles passte einfach nicht zusammen. Eigentlich passte überhaupt nichts zusammen.
Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Ihr Aufseher kam zurück – viel zu früh. Sie zog die Seiten mit dem Artikel heraus und versteckte die Blätter unter der Matratze in ihrem Zimmer. Mit etwas Glück würde er das Fehlen der Seiten gar nicht bemerken. Angespannt wartete sie darauf, dass er hereinkommen würde.
Aus dem Wohnzimmer tönten die unterschiedlichsten Geräusche: Rascheln, Klacken, Schleifen und das Miauen einer genervten Katze. Juna traute sich auf die Schwelle und schaute ihrem Aufpasser zu, wie er ein paar Brötchen in einen Flechtkorb legte. Den leergeräumten Schreibtisch hatte er zum Fenster gerückt. Es hatte etwas Alltägliches und Gemütliches an sich, ihn so zu beobachten, als würden sie schon lange eine Wohnung teilen. Ihr Blick, der seine Figur auf und ab wanderte, blieb bei der angerissenen Ecke der Hosentasche an seinem Hinterteil hängen, das sich fest unter der ausgewaschenen Jeans abzeichnete. Vielleicht war er tatsächlich im Lager gewesen, um sie herauszuholen? Genau. Das glaubst du, weil du es glauben willst, oder? Hatte sie sich nicht vorgenommen, auf der Hut zu sein? Und vor allem: endlich aufzuhören, seinen Hintern anzustarren?
Neben den Tellern, Brötchen, Marmelade, Wurst- und Käseaufschnitt fand auch ein Notebook Platz. Jeder, wie er mag. Ihre Oma hatte nie ohne ihre Zeitung gefrühstückt. Vielleicht war er gewohnt, beim Morgenkaffee die News online zu checken. Juna bemerkte die Zeitung, die sie vorher der Katze streitig gemacht hatte. Die Blätter lagen auf einem Regal des Wandschrankes, neu zusammengelegt. Hatte er die Seiten noch einmal durchgesehen? Mit etwas Glück . Oder bloß hinter seiner pelzigen Mitbewohnerin aufgeräumt?
Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Was willst du von mir? Warum bin ich hier?
Er drehte sich zu ihr um. So plötzlich, als hätte er ihre Gedanken gehört. Sie schreckte zurück. Er hob beschwichtigend die Hände, deutete langsam auf den Tisch, als wolle er sie auf keinen Fall mit einer unbedachten Geste verschrecken. »Alles okay. Hier: Jeda . Hm. Kuschat j ?«
Sie sah ihn verdutzt an, und als er es wiederholte – Kuschat j , Kuschat j –, gelang es ihr nur mit Mühe, ein Kichern zu unterdrücken. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, dass die meisten russischen Wörter eine emotionale Färbung hatten, die nicht zu jeder Situation passte. Doch jetzt, völlig auf den Kopf gestellt, übte die eigene Sprache einen ganz besonderen Reiz auf sie aus. Sein Kuschat j klang so unbeholfen und sprach von einer Vertrautheit, die sie beide noch nicht hatten. Die du dir aber wünschst, oder nicht?
Verdammt. Sie wünschte sich eindeutig zu viel, wenn sie an ihn dachte. Also: Hör auf, über ihn nachzugrübeln!
Er runzelte die Stirn. »Was habe ich jetzt wieder Falsches gesagt?« Das Wörterbuch lag griffbereit auf dem Fenstersims. Das wilde Herumgeblättere ging los.
»Hm. Kuschat j – essen, speisen. Hier. Das Essen ist angerichtet.« Er machte eine einladende Geste zum Tisch und verkündete: » Kuschatj podano! «
Juna kicherte. Gab es nicht sogar eine Komödie mit diesem Titel? Seine Darbietung toppte jedenfalls so einiges. Und sie mochte es, zum Teufel noch mal, sie mochte es so sehr.
Als sie ihn erneut ansah, bemerkte sie in seinen Augen ein warmes Echo ihrer eigenen Heiterkeit. Er blickte verstohlen zum Notebook. »Okay. Gleich wird es besser. Hoffentlich.«
Sie wollte ihn nicht länger quälen, kam zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl
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