Im Netz des Verbrechens
Beine. Als der erste Schwindelanfall abgeklungen war, ließ sie die Stütze los. Vorsichtig stellte sie einen Fuß vor den anderen, bewegte sich Richtung Tür und drückte die Klinke herunter. Wissen ist Macht. Ihre Oma war allerdings anderer Meinung gewesen. Weit über die Sowjetzeit hinaus hatte sie beteuert: Wer viel weiß, wird schnell alt.
Durch den Spalt sah sie ihn hin und her gehen, das Handy ans Ohr gedrückt. »Nein. Sie ist noch nicht soweit. Ich versuch’s, aber ich habe es schon einmal gesagt: Versprechen kann ich nichts. Ja. Sie wird Zeit brauchen, wir dürfen nichts überstürzen.«
Also doch. Er arbeitete für Oleg, der ihr nach Deutschland gefolgt war und ihr K. O.-Tropfen in den Wein getan hatte. Aber wozu der ganze Aufwand? War sie dabei gewesen, irgendetwas herauszufinden, was besser verborgen bleiben sollte? Oder ging es um etwas ganz anderes … ihren Vater? Ihre verschwundene Mutter?
Plötzlich musste sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Türrahmen lehnen. Hatte sie wirklich gehofft, ihren Peinigern zu entkommen?
Sie holte tief Luft und öffnete die Augen.
Er sah direkt in ihre Richtung, die Stirn in Falten gelegt. Mit einem Mal wirkten seine Narben bedrohlich.
Juna stolperte zurück bis zum Bett und sah sich hastig um. Hatte er gemerkt, dass sie gelauscht hatte? Wer viel weiß, wird schnell alt, wie recht ihre Oma doch hatte! Ruhig. Bleib ruhig , schärfte sie sich ein. Er denkt, du verstehst kein Wort. Gut so.
Als sie hörte, wie er sich näherte, griff sie nach dem Glas und schritt zurück zur Tür. Vielleicht würde er denken, sie wollte sich nur noch etwas Wasser holen, vielleicht … sie hielt inne.
Er stand auf der Schwelle – nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, sie fühlte ihn mit allen Sinnen, obwohl sie nicht wagte, ihn anzusehen.
»Du solltest noch nicht aufstehen.« Er schwieg kurz, als wartete er doch noch auf eine Erwiderung. »Verstehst du wirklich nicht, was ich sage?«
Sie drückte das Glas gegen seine Brust.
Er hob die Arme, langsam, ohne sie zu berühren, und dennoch hatte sie das Gefühl, als würden seine Finger sanft ihre Kurven nachzeichnen.
Seine Hände legten sich um die ihren. Sie spürte den leichten Druck seiner Finger. »Ich wünschte, du könntest mir vertrauen.«
Sie zuckte zusammen und riss sich von ihm los.
Das Glas entglitt ihnen beiden und zerschellte am Boden.
5
Das Geräusch der schließenden Tür weckte Juna auf. Zdenkas Wimmern aus einem weit entfernten, unruhigen Traum klang in ihr nach. Dann diese Stille, Zdenkas geschändete Stille. Irritiert rieb sie sich das Gesicht, hob den Kopf und lauschte, vernahm allerdings keinen Ton. Doch. Ein Kratzen? Sie hörte hin. Doch ihr Aufseher war anscheinend gegangen. Um sich ablösen zu lassen? Jede Veränderung drohte, ihre Lage zu verschlimmern. Sie schloss die Augen. »Bitte nicht«, flüsterte sie in die sie umgebende Leere, jedes Wort wie ein Stoßgebet. »Keine anderen Männer.«
Von ihren eigenen Gedanken aufgeschreckt, riss sie die Augen auf. Wann hatte sie sich an seine Nähe gewöhnt? Nein. Du darfst ihm nicht trauen. Du wirst nicht mit ihm sprechen, und du wirst ihn auf keinen Fall – hörst du? – auf keinen Fall mögen! Ihr Verstand schien da eine sehr eindeutige Position zu beziehen. Und sie gab ihm uneingeschränkt recht. Gerade weil dieser Kerl sie nicht bedrohte, musste sie wachsam bleiben, denn er war schwieriger zu durchschauen als die Gorillas aus dem Mädchenlager.
Vor ihrem inneren Auge sah sie erneut, wie er zu ihren Füßen die Glasscherben vom Boden sammelte. Die gesenkten Schultern, das blonde Haar, das ihm leicht wellig in den Nacken fiel, die dünne Linie seines Rückgrats, das sich zaghaft unter seinem Hemd abzeichnete. Sie sah das Blut, das seinen Daumen entlanglief, als er sich an einem der Splitter verletzt hatte, und wie sie, aus einem Impuls heraus nach der Packung Taschentücher gegriffen und eins um seine Wunde gewickelt hatte.
Und jetzt Schluss damit! Ruckartig richtete sie sich auf, tastete herum und schaltete die Tischlampe ein. Das milde, orangefarbene Licht, das durch den schief aufgesetzten Lampenschirm strömte, ließ das Bild in ihrem Kopf verblassen.
Da war es wieder. Ein kaum wahrnehmbares Rascheln. Ab und zu ein zaghaftes Kratzen. Es hörte sich beinahe verspielt an. Sie schluckte. Ihre Erfahrungen mit der paranormalen Welt beschränkten sich auf Casper und den liebenswert-chaotischen Hauskobold Kusja
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