Im Netz des Verbrechens
, den sie als Kind innig geliebt hatte. Keine Folge hatte sie damals verpasst, nicht einmal die Wiederholungen.
Nervös blickte sie umher. Abgesehen von der Tischlampe sah sie nichts, was sich als Waffe eignete.
Was auch immer es ist, es hat mehr Angst vor dir, als du vor ihm , versicherte sie sich und stieß – die Tischlampe in der Hand – die Tür auf.
Das Licht der Morgendämmerung verlieh dem Wohnzimmer etwas Unwirkliches, sie betrachtete den barocken Ohrensessel, einen schlichten Schreibtisch mit einem Computer, einen Wandschrank in Olivgrün und einen Plastik-Ficus neben dem Fenster. Alles wirkte unbeseelt, wie eine Ansammlung von Restposten in einem billigen Möbelhaus.
Sie pirschte sich von hinten an den Sessel heran. Das letzte Mal war das Kratzen von dort gekommen.
Noch ein paar vorsichtige Schritte. Sie hob den Arm mit der Lampe, bereit zuzuschlagen, falls es notwendig war, als etwas Weißes, Flinkes und äußerst Pelziges auf die Lehne schoss. Juna schrie auf, sprang zurück und ließ die Tischlampe fallen. Es krachte, das pelzige Etwas machte einen Buckel und fauchte.
Eine Katze! Es war bloß eine Katze. Offensichtlich missgelaunt, aber alles andere als geisterhaft. Ein schönes Exemplar: glänzendes Fell, weiß mit grauen und bräunlichen Verfärbungen an den Pfoten, verärgert zuckender Schwanz, schlanker, athletischer Körperbau, schmaler Kopf – und ein entsetzlich entstelltes Antlitz ganz aus Fellstücken und Narben.
»Oh Kleines«, hauchte sie. »Was haben sie bloß mit dir gemacht?« Sie schluckte. »Das Gleiche wie mit deinem Herrchen etwa?« Ihre Stimme versagte. Nein, vermutlich nicht. Bei ihm waren es Brandnarben. Das hatte sie sofort erkannt . Ihre Mutter hatte einige Zeit in einer Fabrikkantine geschuftet, hatte ihre Oma erzählt. Auf der Innenseite ihres rechten Unterarms zierte eine Narbe wie eine Eisblume ihre Haut.
Sie beugte sich vor, um die längst verheilten Verletzungen des Tieres genauer in Augenschein zu nehmen. »Ruhig, ruhig. Ks-ks-ks . «
Die Katze langte mit ausgefahrenen Krallen nach ihr.
Sie wich zurück. »Schon gut, schon gut, ich komme dir nicht mehr nahe.« Eins war klar. Ein Sprachgenie war dieses Tier genauso wenig wie sein Herrchen. Und wie man hierzulande Katzen anlockte, hatte man ihr im Deutschunterricht nicht beigebracht.
Das Tier machte einen Satz auf den Boden, verschwand unter dem Schreibtisch und funkelte sie von dort zornig an. Juna ging um den Sessel herum. Anscheinend hatte sie die Fellnase bei der morgendlichen Zeitungslektüre gestört. Überall lagen die losen Blätter verstreut, insbesondere der Sportteil sah arg mitgenommen aus. Sie sammelte alles zusammen, sortierte die Seiten und verharrte, als ihr eine Überschrift ins Auge sprang: 10 000 Euro für jeden Hinweis , stand auf der Seite. Der russische Model-Scout Oleg Woronin glaubt an die Entführung seiner Freundin. Daneben – Oleg auf irgendeinem Empfang. Er ist leger, aber fein angezogen, lächelt süffisant und prostet der Kamera mit einem Sektglas zu. Neben ihm ein Foto von ihr – sie trägt ein schwarzes, knielanges Baumwollkleid mit einem breiten Gürtel, der sich nur durch den Glanz des Lackes vom dunklen Stoff abhebt. Ein Windstoß weht gerade ihren langen Mantel auseinander und wirbelt ein paar bunte Ahornblätter vor ihren Füßen auf. Mit einer gestellt aussehenden Pose versucht sie gerade, ihres Mantels wieder Herr zu werden, sodass man fast glauben könnte, sie würde gerade die neuste Herbstmode präsentieren. Wenn sich am Rande der morgengrauen Allee nicht die Silhouette eines verlassenen Gebäudes abzeichnen würde.
Warum dieses Bild? Ausgerechnet dieses Bild! Sie hatte das Kleid an dem Tag getragen, als Pyschka ihre Kurse geschwänzt hatte, um zu diesem Casting zu gehen. Sie selbst hatte einen Test schreiben müssen und Pyschka danach abholen wollen. Aber unter der genannten Adresse fand sie nur ein altes Fabrikgebäude. Ihre Pyschka war nie wieder aufgetaucht.
Die Buchstaben des Artikels lösten sich vor ihr auf. Sie wischte sich über die Augen. Nur langsam sickerten die Worte des Textes zu ihr durch. Oleg beschwerte sich, dass die Polizei nicht an eine Entführung glaube, und bot jedem, der einen hilfreichen Hinweis auf ihren Verbleib geben konnte, 10.000 Euro an.
Die Polizei! Allein das gedruckte Wort löste in ihr ein unangenehmes Kribbeln im Nacken aus. Sie zwang sich, die Aufmerksamkeit wieder dem Artikel zu widmen. Die angegebene Rufnummer kannte sie
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