Im Palazzo sueßer Geheimnisse
Padrone, begrüßte Michele wie einen alten Freund. Nachdem er sie an einen Tisch geführt hatte, brachte er zwei Weingläser, stellte sie ihnen hin und füllte sie mit Wein. Ehe er in der Küche verschwand, nahm er noch Micheles Bestellung auf.
„Du sagtest vorhin, du hättest auf der Kunstakademie studiert“, merkte Michele an. „Darf ich fragen, wie lange?“
Eigentlich war es eine harmlose Frage, aber Lucy fühlte sich plötzlich wie bei einem Verhör. Sie schluckte und antwortete: „Nur zwei Jahre. Ich wollte Lehrerin werden, doch dann starb mein Vater an einem Herzinfarkt, und meine Mutter und Tante Maureen brauchten meine Mithilfe in der Galerie unserer Familie.“
„Hast du keine Geschwister?“
„Nein, ich bin Einzelkind.“
„Und wer ist Tante Maureen?“
„Die Schwester meines Vaters.“
„Was ist mit deiner Mutter?“
Lucy schluckte wieder. „Sie starb letztes Jahr. Bei einem Verkehrsunfall.“ Als sie merkte, dass sie den Tränen immer noch nah war, wenn sie darüber sprach, sagte sie abrupt: „Erzähl mir von Venedig.“
„Wie es war, oder wie es ist?“
„Wie es war. Wie lange lebt deine Familie schon hier?“
„Seit Jahrhunderten. Meine Vorfahren waren wohlhabend und mächtig. Sie besaßen viele Häuser und Handelsschiffe. Im sechzehnten Jahrhundert wählte man meinen ersten Namensvetter zum Dogen. Er war ein geistreicher Mann und besaß großen Einfluss. Seine Stärke, sein Mut und seine Weisheit waren legendär. Da er einen Löwen in seinem Wappen trug, wurde er bekannt als der ‚Löwe von Venedig‘. Nach ihm wurde auch der Palazzo benannt.“
Kaum hatte er seine Geschichte beendet, servierte Luigi ihnen das Essen. Im purpurfarbenen Licht der Dämmerung sitzend, während am Himmel der Mond aufging, ließen sie sich das Mahl schmecken: geeiste Gurkensuppe, herzhafte Lasagne, Dolcelatte cremoso auf Nussbrot und süße, saftige Aprikosen.
„War das lecker“, seufzte Lucy am Ende zufrieden.
„Ich freue mich über deinen Appetit“, stellte Michele fest.
Zerknirscht gestand sie: „Ich bin immer hungrig.“
„Zum Glück. Weil du so schlank bist, dachte ich schon, du gehörtest zu den Frauen, die ständig auf Diät sind. Denn ich esse nicht gerne mit jemandem, der sich wie ein Spatz ernährt.“
„Nun, ich gehöre eher zur Gattung Geier“, platzte Lucy heraus und hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, als ob ihre Bemerkung für Michele eine tiefere Bedeutung hatte, der er still zustimmte. Aber dann lachte er, und der Moment war vorüber.
Luigi brachte ihnen Espresso und Grappa, und Michele flüsterte mit ihm. Der Padrone strahlte und verließ sie mit leuchtenden Augen.
Während Lucy gedankenverloren Zucker in ihren Espresso rieseln ließ, kam ihr ein Gedanke wieder in den Sinn. „Woher wusstest du eigentlich, wo ich wohne?“
Für einen Moment wirkte Michele irritiert, dann antwortete er: „Signor Candiano muss es mir gegenüber erwähnt haben.“
Hatte der Kunstagent ihre Adresse gekannt? Lucy konnte sich nicht erinnern, den Namen Trevi erwähnt zu haben. Oder doch …?
Beim Grappa angekommen, meinte Michele: „Zeit für etwas anderes.“ Er stand auf und streckte Lucy eine Hand entgegen.
Wie von selbst flog ihm die ihre zu, während ihr Kopf immer noch Nein, Signore sagte.
Michel hakte Lucy unter, zog sie zum Kanal, und eine Gondel glitt ins Licht der Laterne. „ Ecco … dein romantisches Wassergefährt“, sagte er charmant lächelnd.
Verlegen versuchte Lucy, ihm ihre Hand zu entziehen. „Aber damit meinte ich doch nicht, dass …“
Sanft legte er ihr einen Finger auf die Lippen, was ihr Herz einen Sprung machen ließ. „Lass das nicht Luigi hören. Er ist ein Romantiker und hat sich so darauf gefreut, Amor spielen zu können.“
Das also haben die beiden eben leise besprochen, folgerte Lucy, als Michele sie auch schon die wenigen Stufen nach unten zog. Der Gondoliere streckte ihr die Hand entgegen, Lucy kletterte leicht ungelenk in das schaukelnde Boot – und verkrampfte sich noch mehr, als Michele sich neben sie setzte und einen Arm lässig auf die Lehne der prunkvoll verzierten Sitzbank legte.
Eine ganze Weile blieb Lucy ebenso stumm wie der Gondoliere in seinem rot-weiß gestreiften Hemd und mit einem Strohhut samt rotem Band auf dem Kopf, während er am Heck stehend sein langes Ruder ins Wasser tauchte. Nur um irgendetwas zu sagen, meinte sie schließlich: „Danke für den netten Abend.“
„Den netten Abend.“ Michele lachte auf.
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