Im Paradies der Suende
mich verspätet, Ma‘am. Nach dieser Nacht sind wir alle ein bisschen durcheinander. Da ist eine Extratasse. Brauchen Sie Hilfe bei Ihrer Morgentoilette?“
Lou war erleichtert, weil die Zofe keine zwei zusätzlichen Tassen mitgebracht hatte. „Nein, danke“, erwiderte sie und musterte die junge Frau. Sie sah erschöpft aus, und unter ihren geröteten Augen lagen dunkle Schatten. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Di nickte, doch über ihre Wange rollte eine Träne. Sie übergab Lou das Tablett, dann ging sie einen Schritt zurück. „Ja, sicher.“
„Nein, das stimmt nicht. Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir. Mac ist hier. Aber er schläft. Ich ziehe die Bettvorhänge zu, damit wir ihn nicht stören.“
Sie setzten sich an den Tisch am Fenster, und Lou schenkte den Tee ein.
„Tut mir leid, ich bin ziemlich verkatert“, seufzte Di. „Heute Morgen hat mein Freund Schluss mit mir gemacht. Das heißt - er hat‘s schon gestern Abend per SMS getan. Aber ich habe es erst jetzt gelesen.“
„Oh, wie traurig“, sagte Lou leise und erinnerte sich an Dis temperamentvollen Tanz mit Rob, letzte Nacht auf der Terrasse.
„Er hat mir geschrieben, er wär‘s leid, mich so selten zu sehen. Und er hätte jemand anderen gefunden.“ Di zog ein offensichtlich schon mehrmals benutztes Papiertaschentuch aus ihrer Schürzentasche und putzte sich die Nase. „Ich hatte hier so eine tolle Zeit mit Rob und Viv und den anderen, und jetzt ist alles ganz schrecklich.“
„Das tut mir so leid.“ Lou berührte die Hand des Mädchens. „Waren Sie lange mit Ihrem Freund zusammen?“
„Ungefähr ein Jahr. Klar, das ist nicht lange, aber ich habe ihn geliebt. Und ich dachte, er würde mich auch lieben. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Hier will ich nicht bleiben, aber ich kann auch nicht nach London zurück…“
„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf - bleiben Sie in Paradise Hall, zumindest vorerst. Die Gäste mögen Sie, und Sie haben hier Freunde. Jedenfalls ist das ein sicherer Ort, um traurig zu sein. Falls das einen Sinn ergibt…“
Lou schniefte noch einmal und wischte sich dann die Augen trocken. „O ja, das ergibt Sinn. Danke.“ Sie tranken ihren Tee aus und stand auf. „Jetzt muss ich gehen. Haben Sie irgendwas, das ich Viv bringen soll?“
„Nur das Ballkleid. Das nehme ich später selbst mit, wenn ich bei ihr telefoniere.“
„Okay. Aber seien Sie vorsichtig. Viv wird furchtbare Kopfschmerzen haben und echt mies gelaunt sein. Und sie ist wahrscheinlich nicht allein. Ich werde ihr heute jedenfalls lieber aus dem Weg gehen.“
Mac schlief noch, als Lou am späten Vormittag das Zimmer verließ. Sie hatte geduscht und sich angezogen. Das Ballkleid trug sie über dem Arm. An der amerikanischen Ostküste war es jetzt fünf Uhr morgens. Ihre Dissertationsberaterin war eine Frühaufsteherin. Doch Lou fand, es würde nicht schaden, wenn sie noch eine Stunde wartete, ehe sie mit ihr telefonierte. Nach dem Frühstück wollte sie in aller Ruhe zum Pförtnerhaus spazieren.
Im Haus war es still. Ein paar übermüdete Diener waren dabei, die welken Blumengirlanden von Treppengeländern und Säulen abzunehmen. Im Speisezimmer lehnten einige ebenso erschöpfte, unrasierte Lakaien an der Wand. Noch war niemand zum Frühstück erschienen, fast alle Gäste hatten bis zum Morgengrauen getanzt und gezecht. Lou trank eine Tasse Tee und nahm sich ein Butterbrötchen, das sie unterwegs essen wollte.
Bevor sie hinausging, empfahl sie den Jungs, sich zu setzen, solange sie allein waren. Wie Marionetten, deren Fäden durchschnitten worden waren, sanken sie auf die Stühle. Einer legte den Kopf auf den Tisch und schlief sofort ein.
Draußen war es noch ruhiger. Keine Menschenseele ließ sich blicken. Langsam schlenderte Lou den Weg entlang. Die Entdeckung des vergangenen Abends erschien ihr wie ein Traum. Welche Geschichte verbarg sich hinter den wenigen Worten auf dem alten Papierstück? Welche anderen Schätze mochten sie in den beiden noch unerforschten Räumen oder in benachbarten Häusern finden?
Sie erreichte das Pförtnerhaus, klopfte an die Tür und erinnerte sich an Dis Warnung vor Vivs schlechter Laune.
Nach ein paar Minuten öffnete Viv. Ihre Wimperntusche war verschmiert, ihre Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, und in ihrem Mundwinkel hing eine Zigarette.
Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und hustete eine halbe Minute lang. „Oh, Sie sind‘s. Kommen Sie rein.“
Ihr Kimono flatterte um
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