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Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
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voneinander, berührten sich nicht, sprachen nicht. Während das Wasser weiter rauschte, nahm Colleen plötzlich das Ticken von Beverlys Uhr wahr, das Summen eines Heizgeräts, das Gemurmel von Trauergästen in den Räumen über ihnen.
    Im Bestattungsinstitut gab es fünf Räume für Totenwachen, und neben der Tür jedes dieser Räume stand auf einem gerillten Schild in weißen Steckbuchstaben der Name des jeweiligen Toten. Was wie Stimmengemurmel geklungen hatte, war vielleicht nur Dampf in den Rohren im Fußboden gewesen.
    Das Licht flackerte plötzlich, ein Spannungsstoß, der ein Knistern erzeugte, und immer noch standen Colleen und ihre Mutter reglos da, bis ihre Mutter die Augen schloss, durch die Nase tief Luft holte und sie erschaudernd wieder ausstieß.
    Sie rieb sich das eine Auge mit dem Fingerknöchel, sodass das feuchte Geräusch von Knöchel und Lid und Augapfel zu hören war, ein wässeriges, körperliches, sehr intimes Geräusch. Colleens Mutter gähnte herzhaft, und Colleen gähnte ebenfalls. Sie sah im Spiegel, wie sie gähnte, und konnte gar nicht mehr aufhören. Sie hätten dort im Stehen einschlafen, den gleichen Traum träumen können.
    Davids Leichnam im anthrazitgrauen Anzug, sein Ehering und die weiße Rose, seine Hände, das cremefarbene, geraffte Sargfutter und all die alten Frauen und Männer, die gekommen waren, das alles hätte aus einem tiefen, tiefen Schlaf stammen können. So wie ein besonders anstrengender Traum einen am Tag danach wieder einholt, in Bann schlägt, sich bedeutungsschwer ins Bewusstsein drängt.
    Dann durchbrach ihre Mutter die lastende Stille.
    Nach der Beerdigung geht’s nach Florida, würde ich sagen, hatte Beverly gesagt. Mit einem kurzen, harten Schnappen schloss sie ihre Handtasche, die neben ihr auf dem Waschtisch stand. Sie drehte den Wasserhahn zu.
    Abends nach der Beerdigung fuhren sie wortlos nach Hause, und als sie in die Einfahrt gebogen waren, stellte Beverly den Motor ab, und sie saßen einfach da. Im Haus brannte kein Licht.
    Lass uns reingehen, sagte Beverly. Doch sie rührten sich beide nicht.
    Schließlich hatte Colleen so kalte Füße, dass sie ausstieg. Ihre Stiefel brachen durch die dünne glänzende Eiskruste des Schnees, jeder Schritt zum Haus erzeugte ein lautes Knirschen.
    Drinnen ging sie als erstes ins Bad, und als sie den Klodeckel hochklappte, sah sie das Nest verfilzter Haare, das ihre Mutter morgens aus ihrer Bürste gezupft hatte, auf dem Wasser schwimmen.
    Die Haare in der Toilette drehten sich ganz gemächlich, und diese kaum merkliche Bewegung hatte etwas Unheimliches.
    Colleen kam der Gedanke, dass ihre Mutter durch Davids Tod gealtert war.
    Sie war mit einem Schlag uralt geworden.
    Sie war immer älter gewesen als all die anderen Mütter, die Jeans trugen und zu ihren Kindern auf den Schlitten stiegen und instinktiv wussten, was in Überraschungstüten hineingehörte. Aber jetzt war sie uralt.
    Colleen starrte auf die Haare und dachte, dass ihre Mutter in eine ferne Einsamkeit katapultiert worden war, weit weg von Colleen und allen anderen, für immer abgesondert. Der Sex, die Intimität, die komplexen Rituale eines Paars, das sich schon lange liebt, waren ihr genommen worden – jene Aspekte des Lebens ihrer Mutter, die Colleen vor Davids Tod verborgen gewesen waren. Aber doch, sie mussten Sex gehabt, sich geliebt haben, sie waren beste Freunde, hatten sich beim Kochen murmelnd unterhalten; sie sah die niederschmetternde, nackte Wahrheit, den unermesslichen Verlust. Die gewaltige neue Einsamkeit ihrer Mutter war ein Stigma, sie verwehrte ihr jede Freude und Unbeschwertheit, ohne Wenn und Aber; es war eine Einsamkeit, die Colleen ansteckend vorkam.
    Die in der Kloschüssel schwimmenden dunklen Haare verkörperten die Schlichtheit und das Grauen der Trauer, die ihre Mutter erfasst hatte, und sie machten Colleen Angst. Sie wollte der voyeuristischen Intimität dieses verfilzten Haarnests so fern wie nur irgend möglich sein.
    Sie erwachte bei brennendem Licht auf ihrem Bett; sie hatte ihren Wintermantel noch an. Der Schnee an ihren Stiefeln war geschmolzen und hatte die Tagesdecke durchnässt. Sie wachte auf, als hätte sie gar nicht richtig geschlafen, doch es war vier Uhr früh, sie ging ins Wohnzimmer und sah durchs Fenster, dass ihre Mutter im Auto eingeschlafen war, ihre Stirn ruhte auf dem Lenkrad, die Windschutzscheibe war von Reif überzogen.

Beverly
    Colleen aß das halb rohe, schleimige Ei fertig, das Beverly ihr gekocht

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