Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Rachen des Alligators

Im Rachen des Alligators

Titel: Im Rachen des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Moore
Vom Netzwerk:
zuvor. Sie sagte David, dass sie ihn auch liebe. Sie weiß noch, dass sie das sagte. Hat den Eindruck, dass sie es sagte. Dass sie ihm das vermittelte.
    Was immer auch passiert sein mochte, sie hatte ihm den Eindruck vermittelt, dass sie bereit war, es durchzufechten. Sie ist sich ziemlich sicher, dass sie das klar vermittelt hat.
    Aus Halifax kam kein Anruf. Da hatte seine letzte Stunde schon geschlagen. Aus unerfindlichen Gründen weckte der Gedanke an das Aneurysma dieses Bild bei ihr: ein in Nebel gehüllter Turm, eine Taubenschar, die sich in die Luft erhebt, Verlassenheit, die letzte Stunde – sie hatte gegen vier Uhr nachmittags geschlagen. Um dieselbe Zeit hatte der Sturm St. John’s erreicht, binnen weniger Stunden war alles zum Erliegen gekommen, ihr Rasenmäher unter dem Schnee begraben. David war durch die Drehtür eines Einkaufszentrums gegangen. Er hatte eine Drogerietüte in der Hand, hatte Zahnseide und Warzenpflaster besorgt. In seiner Anzugtasche fand sie eine Restaurantrechnung. Er hatte im The Keg zwei Bier vom Fass und einen Cheeseburger zu sich genommen, und er hatte sich den New Yorker gekauft, der bei einer Kurzgeschichte von Arthur Miller aufgeschlagen war.

Valentin
    Valentin ging die Straße zur Robin-Hood-Bay-Mülldeponie entlang, bis er an den Zaun kam. Dahinter befand sich eine kleine Hütte mit einem einzelnen Fenster, die Tür war abgeschlossen. Valentin lockerte den Türrahmen behutsam mit einer Feile, die er in seinem Rucksack mitgebracht hatte, die Nägel quietschten, doch es gelang ihm, den Rahmen von der Wand zu hebeln, ohne dass das Holz splitterte, und dann rüttelte er an der Türklinke, bis das Schloss nachgab.
    Auf einem zerkratzten Holztisch stand ein braunes Plastiktablett mit einer Teetasse, auf deren Unterteller ein ausgedrückter Teebeutel lag. Ein Wasserkessel, Kaffeesahne und ein Glasschälchen mit Würfelzucker standen auf einem kleinen Kühlschrank in der Ecke. Die Schalttafel für den Elektrozaun befand sich über dem Kühlschrank, und Valentin legte den Schalter um und hörte, wie das Summen erstarb. Jetzt hörte er die Seemöwen in der Ferne. Neben der Tafel hing ein Schlüsselbund, und er vermutete, dass sich mit einem der Schlüssel das Vorhängeschloss am Tor würde öffnen lassen.
    Als er den Zaun berührte, wurde sein Sichtfeld von den Rändern her schwarz und schnurrte zusammen, wie wenn der Verschluss einer Kamera zugeht, sodass im Nu nur noch ein Pünktchen Licht da war und dann auch das nicht mehr, er ging zu Boden und schlug mit dem Hinterkopf auf einen Stein.
    Ein paar Minuten lag er auf dem Rücken, sein ganzer Körper prickelte, und seine Knochen schmerzten. Am Straßenrand standen mehrere Tieflader, auf deren Ladeflächen zusammengepresste Karosserien gestapelt waren, zwischen den bunten Motorhauben lugte zerkrumpeltes, rostiges Blech hervor wie Salatblätter aus einem Sandwich.
    Das Blau des Himmels war so blau, dass es in den Augen schmerzte, und die Möwen waren sehr weiß und fern. Er sah eine Ansammlung von Betonkanalrohren, allerdings fiel ihm das englische Wort für Kanalrohr nicht ein, und er bezweifelte, dass er es je gewusst hatte. Er erinnerte sich – oder meinte sich zu erinnern – an eine Zugfahrt, auf der er aus einem Traum gerüttelt worden war und durchs Fenster auf einem Industriegelände Tausende aufeinandergestapelter Kanalrohre gesehen hatte, wie eine Bienenwabe sahen sie aus. Kräne hoben sie sanft nach oben, und Männer mit Helmen standen einzeln oder paarweise herum. Die Sonne ging gerade unter, und durch die Zylinder strömte goldenes Licht, doch er konnte sich nicht daran erinnern, in welchem Land das gewesen war. Er fühlte sich wie durch die Mangel gedreht. Fühlte sich weinerlich, wie ein Kind, hatte Angst vor der Schrotthalde.
    Der Boden, auf dem er lag, war fest zusammengebacken und von Metallstücken, Stofffetzen und Plastiktüten durchsetzt, die mit dem Schotter vermischt, untergepflügt und dann von den Bulldozern plattgewalzt worden waren, man sah noch ihre Spuren. Als er aufstand, wurde ihm schwindelig. Er ging zur Hütte zurück, setzte sich auf einen Drehstuhl mit verschlissenem Sitzpolster, aus dem ein Stück Schaumstoff heraushing, und dann fing Valentin an zu weinen.
    Er hatte Angst vor Ratten. Er war im Gefängnis gewesen und wusste, wie man wirkungsvoll Schmerzen zufügt und wie man sie erträgt. Schmerzen erträgt man so: Man beschließt, dass man sie ertragen wird. Er hatte im Gefängnis das Rauchen

Weitere Kostenlose Bücher