Im Rausch der Freiheit
Hoteldirektor eine Quittung für den Koffer ausstellen und erklärte, sie würde diesen in ein paar Tagen wieder abholen, und, wenn er nicht mehr da wäre, die Polizei rufen. Dann machte sie sich auf den Weg. Droschken oder sonstige Beförderungsmittel gab es keine. Ganz Brooklyn traute sich nicht aus dem Haus. Trotzdem versuchte der Direktor nicht, sie aufzuhalten. Er hoffte, dass sie im Schneesturm erfrieren würde.
Inzwischen hatte Donna Clipp sich bis zur Brooklyn Bridge durchgekämpft, die nicht weit entfernt war. Und auch wenn sie, als sie dort ankam, wie eine wandelnde Schneefrau aussah, schien ihre Energie ungebrochen, schließlich verkehrten Stadtzüge über die Brücke, und war sie erst einmal auf der anderen Seite, würde sie es auch irgendwie schaffen, nach Hause zu kommen. Doch plötzlich hielt sie ein Polizist auf.
»Die Brücke ist geschlossen«.
Das riesige Bauwerk lag in der Tat wie ausgestorben da. Sein gewaltiger Bogen stieg in den Blizzard empor und verschwand im Weiß. Die Fahrbahn war gesperrt, und die Triebwagen standen festgefroren an den Bahnsteigen. Der Polizist war so gescheit gewesen, sich in dem Mauthäuschen zu verschanzen, wo Fußgänger ihren Penny entrichten mussten, um hinüberlaufen zu dürfen. Er hatte eine Laterne bei sich und war nicht einmal bereit, das Fensterchen zu öffnen, um mit ihr richtig zu sprechen.
»Was soll das heißen, geschlossen?«, schrie sie. »Das ist eine gottverdammte Brücke!«
»Die Brooklyn Bridge ist geschlossen. Zu gefährlich, Lady«, brüllte er zurück.
»Ich muss nach Manhattan«, protestierte sie.
»Unmöglich. Es geht keine Fähre, und die Brücke ist gesperrt.«
»Dann lauf ich eben rüber.«
»Sind Sie übergeschnappt, Lady?« Dem Polizisten riss der Geduldsfaden. »Ich hab Ihnen grad gesagt, dass die Brücke gesperrt ist! Besonders für Fußgänger.« Er deutete auf den höher gelegenen Fußgängerweg, der in dem Schneesturm kaum noch zu erkennen war.
»Also, wie viel macht die Maut? Da steht ein Penny. Ich zahl nicht mehr als einen Penny.«
»Sie zahlen keinen Penny«, brüllte der Polizist, »denn ich hab Ihnen schon dreimal gesagt, dass die Brücke gesperrt ist!«
»Das sagen Sie .«
»Das sag ich allerdings. Verschwinden Sie hier, Lady!«
»Ich bleib stehen, solang’s mir passt. Ich verstoß gegen kein Gesetz.«
»Jeesses!«, schrie der Polizist. »Dann bleiben Sie eben da und erfrieren Sie! Aber über die Brücke kommen Sie nicht!«
Fünf Minuten später stand sie immer noch da. Entnervt kehrte der Polizist ihr den Rücken zu und verharrte so ein, zwei Minuten. Als er sich wieder umdrehte, war sie, Gott sei Dank, verschwunden. Er seufzte, warf einen Blick auf die Brücke und stieß einen Wutschrei aus.
Er sah sie hoch oben auf dem Fußgängerweg, schon fünfzig, sechzig Meter entfernt und kurz davor, im Schneegestöber zu verschwinden. Wie zum Teufel war sie am Mauthäuschen vorbeigekommen? Er öffnete die Tür, und der eisige Sturm schlug ihm ins Gesicht. Fluchend und schimpfend machte er sich an die Verfolgung dieses frechen Weibes.
Dann blieb er stehen. Jeden Augenblick konnte der Wind sie packen und über das Geländer wehen, um sie dann entweder auf die Gleise oder, noch besser, in das eiskalte Wasser des East River fallen zu lassen. Er kehrte zum Häuschen zurück. »Die hab ich nie gesehen«, murmelte er.
Donna Clipp marschierte entschlossen voran. Das Mauthäuschen war schon lang nicht mehr zu sehen, und sie wusste, dass sie jetzt jeden Augenblick den Scheitelpunkt der langen Fußgängerhängebrücke erreichen würde. Der Wind stöhnte, und in Abständen steigerte sich das Stöhnen zu einem Heulen, als ob ein unermesslich wütender Leviathan unten in der Bucht und im East River um sich schlüge, eine gigantische Seeschlange, die sie als Beute an sich reißen wollte. Ihr Gesicht fühlte sich schon ganz taub von den stechenden Schneeflocken an. Sie hatte nicht bedacht, dass die Kälte dort oben, so hoch über dem Wasser, noch viel schlimmer sein würde, und sie begriff, dass sie, wenn sie nicht bald einen Unterschlupf fand, hier womöglich erfror.
Donna Clipp wollte nicht sterben. Das war in ihren Plänen auf lange, lange Sicht nicht vorgesehen.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich weiter durch diesen entsetzlichen weißen Tunnel voranzukämpfen und auf der anderen Seite wieder hinunterzusteigen.
Sie kam grausam langsam vorwärts. Wenn sie das Geländer auch nur einen Augenblick losließ, konnte der
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