Im Rausch der Freiheit
Menschen, die vom Blizzard überrascht wurden und erfroren sind.«
»Fast fünfzig, habe ich gehört.«
»Eine Frau hat man oben auf dem Fußgängerweg der Brooklyn Bridge gefunden. Hatte ihre Handtasche dabei. Darin ein Notizbuch mit ihrem Namen und ein paar andere Dinge. Niemand hat sich nach ihr erkundigt, und die Stadtverwaltung hat so schon alle Hände voll zu tun. Soweit ich weiß, werden morgen die meisten Toten begraben.«
»Sollten wir irgendetwas unternehmen? Ich meine, wir haben sie schließlich nach Brooklyn geschickt. Es ist unsere Schuld.«
»Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wollen?«
»Nein. Aber ich fühle mich abscheulich.«
»Wirklich?« Lily lächelte. »Ach, Hetty, Sie sind zu gut für diese Welt!«
*
So endete der große Dakotablizzard. Bereits die Woche darauf fuhren alle Züge wieder, und New York schickte sich langsam an, zur Normalität zurückzukehren.
Niemand achtete sonderlich auf die adrett gekleidete Dame mit dunklem Haar und einem neuen Koffer, der eine neue Garderobe enthielt, die am darauffolgenden Mittwoch den Zug nach Chicago bestieg. Im Waggon saß sie für sich, ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Ihr Name lautete Prudence Grace.
Als der Zug allmählich beschleunigte, starrte sie durch das Fenster auf die langsam zurückweichende Stadt. Und wenn einer der Mitreisenden ihr zufällig einen Blick zugeworfen hätte, als die letzten Häuser der Stadt verschwanden, dann wäre ihm aufgefallen, dass sie etwas zu flüstern schien, was ohne Weiteres ein kurzes Gebet gewesen sein könnte.
Dann seufzte Donna Clipp zufrieden auf.
Ihr war eine plötzliche Eingebung gekommen, als sie auf der Brooklyn Bridge diesen Körper vor sich liegen sah. Schon stocksteif gefroren. Die Frau ähnelte ihr nicht besonders, war aber mehr oder weniger im selben Alter, braunhaarig und nicht zu groß. Durchaus einen Versuch wert. Es war die Sache einer Minute gewesen, der toten Frau ihre Handtasche unterzuschieben, in der sie gerade genug Identifizierbares ließ, um der Leiche einen Namen zuordnen zu können.
Danach zwang sie sich weiterzumarschieren, diese lange, entsetzliche Fußgängerbrücke hinunter, selbst schon mehr tot als lebendig, aber jetzt mit einem neuen Grund, unbedingt am Leben zu bleiben.
Sollte die Polizei sie jemals suchen, würde sie feststellen, dass sie tot war. Sie besaß jetzt einen neuen Namen, eine neue Identität. Es war an der Zeit, in eine neue Stadt zu ziehen, möglichst weit weg. Und in ein neues Leben.
Sie war frei, und das erheiterte sie. Deswegen hatte sie, als New York aus ihrem Blickfeld verschwand, ein letztes und endgültiges Mal an Frank Master gedacht und geflüstert: »Ade, du alter Scheißkerl.«
BESUCH AUS ENGLAND
1896
An einem warmen Juniabend des Jahres 1896 stieg Mary O’Donnell die Stufen vor dem Haus ihres Bruders Sean an der Fifth Avenue hinauf. In dem langen weißen Abendkleid und den langen weißen Handschuhen war sie eine vornehme Erscheinung. Als der Butler ihr die Tür öffnete, lächelte sie ihm zu.
Aber ihr Lächeln verbarg eine entsetzliche Angst.
Am Fuße der prächtigen Treppe stand, sehr elegant in Frack und weißer Schleife, ihr Bruder.
»Sind sie da?«, fragte sie leise.
»Sie sind im drawing room. « Er benutzte die »vornehme« britische Bezeichnung für einen Salon.
»Wie hab ich mich bloß dazu breitschlagen lassen, du Teufel?« Sie versuchte, unbeschwert zu klingen.
»Es ist doch nur ein Abendessen.«
»Ja, aber mit einem Lord! «
»Da wo er herkommt, gibt’s jede Menge davon.«
Mary atmete tief durch. Sie wusste, warum der englische Lord da war und was die Familie von ihr erwartete. Für gewöhnlich verstand sie es durchaus, bei gesellschaftlichen Anlässen eine gute Figur zu machen, aber diesmal war es etwas anderes. Es konnten Fragen gestellt werden – Fragen, vor denen ihr graute.
»Gott, steh mir bei«, murmelte sie.
»Kopf hoch«, sagte Sean.
Es war mittlerweile fünf Jahre her, dass Mary sich endlich dem Zureden ihres Bruders gebeugt und ihre Stellung bei den Masters aufgegeben hatte.
Zufällig war in der Querstraße, gerade um die Ecke von Seans Stadtvilla an der Fifth Avenue, ein Haus frei geworden, und Sean hatte es gekauft. »Ich möchte es nicht vermieten«, erklärte er ihr, »deswegen tätest du mir einen Gefallen, wenn du darin wohnen würdest.« Verglichen mit seinem Domizil war das Haus eher bescheiden, aber immer noch viel zu groß für sie. Doch als seine Kinder und Enkel sie anflehten,
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