Im Rausch der Freiheit
dort einzuziehen, hatte sie den zarten Wink verstanden. Abgesehen von ihrem Schlafzimmer, das sehr schlicht nach ihrem Geschmack eingerichtet war, erlaubte sie es den jungen Leuten, das Haus ganz nach ihren Vorstellungen zu möblieren und zu dekorieren. Und seitdem verging kaum eine Woche, ohne dass jemand aus der jüngeren Generation mit Freunden oder Freundinnen vorbeischaute, um bei Tante Mary Tee zu trinken. Und sie empfing die Gäste in dem Stil, wie es im Haus der Masters am Gramercy Park üblich war. Schließlich war sie vierzig Jahre lang Zeugin gewesen, wie Hetty Maser ihre Gäste empfing. Auf diese Weise leistete sie ihren Beitrag zur Vollendung des Bildes ihrer nunmehr reichen und achtbaren Familie, und alle waren zufrieden. Sie hatte keine Probleme mit diesem kleinen Theater – wenn es die anderen glücklich machte …
Aber dieser Abend war anders. Seine Lordschaft konnte durchaus anfangen, unangenehme Fragen zu stellen. Wie zum Beispiel: Was hatte sie die letzten vierzig Jahre ihres Lebens gemacht?
Um ehrlich zu sein, vermisste sie anfangs, als sie in ihr vornehmes neues Domizil einzog, ihr Zimmerchen im masterschen Haus nicht wenig. Doch dann traten neue Umstände ein, und es änderte sich einiges.
Sie wohnte seit einem Jahr in ihrem neuen Haus, als Frank Master erkrankte und starb. Hetty Master war erst ein paar Monate verwitwet, als sie Mary zu sich bat und ihr sagte: »Ich fühl mich einsam, Mary. Es gibt hier jederzeit ein Zimmer für dich, wann immer du Lust hast, zu bleiben und mir Gesellschaft zu leisten.« Und als Mary vorschlug, jede Woche zwei, drei Nächte in Gramercy Park zu verbringen, meinte Hetty: »Ich dachte, das blaue Zimmer würde dir vielleicht gefallen.«
Ihr altes Zimmer befand sich oben im Dienstbotengeschoss, das neue auf derselben Etage wie Hettys Schlafzimmer. Mary nahm das Angebot an. Jeder verstand es. Die Dienstboten nannten sie jetzt »Miss O’Donnell«. Sie wussten, dass sie reich war.
Also teilte Mary ihre Zeit zwischen der Fifth Avenue und dem Gramercy Park und war damit sehr zufrieden. Ihre neue Lebensweise ließ ihr ungewohnt viel freie Zeit, die sie auf angenehme Weise zu nutzen verstand. Sie zeichnete gern und belegte Zeichenkurse. Gemeinsam mit Hetty besuchte sie Ausstellungen und Vorträge. Ihr musikalischer Geschmack blieb schlicht, aber wenn die komischen Opern von Gilbert und Sullivan aus London hier in New York aufgeführt wurden, kaufte sie sich sofort Karten. Den Mikado und The Yeoman of the Guard hatte sie drei- oder viermal gesehen.
Neben ihren Angehörigen gab es ein paar Freundinnen und Freunde, an erster Stelle Gretchen Keller. Deren Bruder Theodor war schon lange verheiratet und hatte inzwischen Kinder, aber sie sah ihn noch immer von Zeit zu Zeit. Sie hatte sich im Laufe der Jahre wiederholt gefragt, ob sie sich selbst nicht mehr Mühe in dieser Hinsicht hätte geben sollen, aber irgendwie hatte sie den Richtigen nie gefunden. Die Wahrheit war, wie sie selbst wusste, dass sie immer jemanden wie Hans oder Theodor gewollt hatte, und solche Männer waren nun mal nicht leicht zu finden. Wer weiß – wenn sie damals Seans Angebot angenommen und bei den Masters gekündigt hätte, würde sie vielleicht noch jemanden kennengelernt haben. Ach, jetzt war es sowieso sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Und alles in allem führte sie wirklich kein schlechtes Leben für ein Mädchen, das in Five Points aufgewachsen war.
Five Points. Was, wenn Seine Lordschaft sie fragte, wo sie geboren und aufgewachsen war? Was sollte sie dann sagen? »Downtown an der Fourth Avenue«, hatte Sean ihr gesagt. Aber der Gedanke an jene Zeiten und die Erinnerungen, die damit einhergingen, erfüllten sie mit einem entsetzlichen, kalten Grauen. Sie würde rot werden, sie würde etwas Dummes sagen, sie würde, ohne es zu wollen, die schmuddelige Wahrheit über die Familie verraten und alle in grässliche Verlegenheit bringen. »Mach dir keine Sorgen«, hatte Sean gesagt. »Überlass alles mir.«
Für Sean war dieser Auftritt nicht so schlimm. Er kannte diese Leute schon. Nachdem seine Frau drei Jahre zuvor gestorben war, hatte er begonnen zu reisen, und war vergangenes Jahr zusammen mit seinem Sohn Daniel und dessen Familie nach London gefahren. Und da hatte Daniels Tochter Clarissa den jungen Gerald Rivers kennengelernt. Sie war eine wohlerzogene junge Dame, eine gute Reiterin, und sie waren sich auf einer Fuchsjagd begegnet. Gerald Rivers war gerade von einer Reise
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