Im Rausch der Freiheit
durch Amerika zurückgekehrt und verfiel schon bald ihrer selbstbewussten amerikanischen Art. Außerdem war seinen Eltern ihr offensichtlicher Reichtum mit Sicherheit nicht entgangen. Doch Gerald und Clarissa waren beide jung, und so war man übereingekommen, dass sie noch ein paar Monate warten sollten, ehe man in ernsthafte Verhandlungen bezüglich ihrer Verlobung einstieg.
Als Sean Mary von der Angelegenheit erzählt hatte, war sie nicht sonderlich überrascht gewesen. Es war allgemein bekannt, dass sich die britische Aristokratie in letzter Zeit zunehmend für amerikanische Erbinnen interessierte; Sean hatte das knapp und treffend formuliert: »Die versuchen bloß, sich etwas von dem Geld zurückzuholen, das sie an diesem Land verloren haben.« Denn seit die Kanäle und Eisenbahnlinien den amerikanischen Mittelwesten erschlossen hatten, konnten die englischen Produzenten mit den billigen Importen von amerikanischem Getreide und Fleisch nicht mehr konkurrieren. Der Wert von Englands gewaltigen, einstmals bedeutenden Ernten war stark gesunken, und die Einkommen, von denen die landbesitzenden Aristokraten bislang auf so großem Fuße gelebt hatten, betrugen nur noch einen Bruchteil dessen, was sie einmal gewesen waren. Insofern konnte man es ihnen kaum verdenken, wenn sie einen Blick über den Atlantik riskierten, wo es mittlerweile ein reiches Angebot an Erbinnen gab, deren Mütter nur zu begierig waren, sie meistbietend zu veräußern. Außerdem waren die Erbinnen in der Regel gebildetere und interessantere Gesprächspartnerinnen als die englischen Landjunkerfräulein.
»Aber was haben die Amerikaner davon?«, hatte Mary ihren Bruder gefragt.
Er hatte mit den Schultern gezuckt. »Wenn ein Mann ein Vermögen gemacht und sich alles gekauft hat, was Amerika ihm nur bieten kann, schaut er sich nach anderen Welten um, die er noch erobern kann. Was bleibt also übrig? Er schaut nach Europa und sieht dort Dinge, die in Amerika nicht zu haben sind. Jahrhundertealte Kunstwerke, ebenso alte Manieren und Traditionen, Adelstitel. Also kauft er sich die. Ist ein Zeitvertreib. Und für die Mütter natürlich ein spannender Konkurrenzkampf.«
Mary fragte sich, ob die Mädchen selbst immer so glücklich waren. Sie erinnerte sich, über die Hochzeit Consuelo Vanderbilts mit dem Herzog von Marlborough gelesen zu haben. Es war ein großes gesellschaftliches Ereignis gewesen, ein Triumph für Consuelos Mutter. Und der Bräutigam hatte ein paar Vanderbilt-Millionen bekommen, damit er seinen prächtigen Palast instand halten konnte. Doch sie erinnerte sich auch, von Hetty Master die andere Seite der Geschichte gehört zu haben.
»Die arme Consuelo ist hoffnungslos in Winthrop Rutherfurd verliebt. Er stammt aus einer guten, alten amerikanischen Familie, aber ihre Mutter war fest entschlossen, einen Adelstitel in die Familie zu holen – sie hat das arme Mädchen buchstäblich eingesperrt und sie gezwungen, den Herzog zu heiraten. Consuelo hat während der Hochzeit geweint. Es war wirklich eine Schande.«
Clarissa allerdings war in keinen anderen verliebt. Im Gegenteil, sie mochte Lord Rivers’ Zweitältesten Sohn sehr gern. Er sah gut aus, war jung und unternehmungslustig und Offizier in einem angesehenen Regiment. Keine schlechte Partie, wenn das nötige Kleingeld dazukam. Sean, der drei Enkelinnen hatte, schien das Ganze amüsant zu finden.
»Aber sie ist doch katholisch«, hatte Mary eingewandt, »und er ist doch mit Sicherheit Anglikaner.«
»Das ist Clarissas Sache«, sagte Sean. »Ihr Vater meint, ihm wär’s egal.«
»Und ihre Mutter?«
»Meine Schwiegermutter möchte, dass sie den Sohn eines Lords heiratet.«
Es war eine ziemliche Überraschung gewesen, als Lord und Lady Rivers ihre Absicht kundtaten, selbst Amerika zu besuchen. Doch Sean arrangierte schnell alles zu ihrer Zufriedenheit. Ein paar Tage in New York, gefolgt von einer Dampferfahrt den Hudson hinauf, ein paar Tage in Saratoga und dann rüber nach Boston, das sie ausdrücklich sehen wollten.
Solange Lord Rivers in New York weilte, beabsichtigte Sean als Großvater der Braut in spe seinen Part zu spielen, und der bestand darin, die O’Donnells hochachtbar aussehen zu lassen. Die Briten nahmen – ganz zu Unrecht – immer an, jeder amerikanische Reiche sei grundsätzlich ein Neureicher. Dennoch würde die Anwesenheit des reichen alten Großvaters und seiner durch und durch anständigen Schwester Clarissa den Einstieg in ihr neues Leben erheblich
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