Im Rausch der Freiheit
anzuschneiden.
»Meine Familie ist dagegen, Sir.«
Es entstand ein Murmeln im Zimmer. Keller wandte sich zu Rose Master.
»Ich glaube, an diesem Punkt müssen wir vorsichtig sein«, sagte er. »Die Fabrikbesitzer wären ohne Zweifel froh, uns im Glauben zu lassen, das Ganze sei ein rein jüdischer Streik -ja vielleicht ein sozialistischer Aufstand. Aber es könnte sein, dass sie uns bewusst in die Irre führen.« Er wollte nicht unhöflich sein, bemühte sich nur um Gewissenhaftigkeit.
Die alte Hetty strahlte. Roses Gesicht erstarrte zur Maske.
Doch dann beging Edmund Keller einen großen Fehler.
Er war kein Dummkopf, jedoch auch nicht weltgewandt. Er war nun einmal ein Büchermensch und erkannte nicht, dass die mächtigen Damen von New York Politik als Gesellschaftsspiel betrachteten, das nur dazu diente, den Beweis zu erbringen, wer am meisten Einfluss besaß. Er unterstellte, hinter all diesen Aktivitäten stecke ein echtes Streben nach der Wahrheit. Und deswegen begriff er nicht, dass er durch seine sachliche Richtigstellung Rose demütigte.
»Natürlich«, fuhr er nonchalant fort, »kann man schon begreifen, warum die Eltern dieses Mädchens nicht wollen, dass sie der WTU beitritt. Aber wenn wir ehrlich sind, zeigt die europäische Geschichte uns doch, dass Fabrikarbeiter fast immer ausgebeutet wurden, bis schließlich eine starke Gewerkschaft oder eine Regierung eingriff.«
Wenn die Damen Teilnehmerinnen an einem Geschichtsseminar gewesen wären, hätte eine solche um Ausgewogenheit bemühte Argumentation vielleicht verfangen. Doch das waren sie nicht. Und er hatte Rose gerade die Gelegenheit gegeben, zum Gegenangriff überzugehen.
»Europäische Geschichte? Damit kennen Sie sich mit Sicherheit hervorragend aus, Mr Keller! Und trifft es nicht zu, dass Europa voll von Sozialisten ist? Und wissen Sie nicht, dass unschuldige italienische Mädchen, die dazu gezwungen oder verführt werden, die Gewerkschaften zu unterstützen, nur die wehrlosen Marionetten russischer Sozialisten sind? Nach dem, was ich höre, wissen Sie über Sozialisten doch sehr gut Bescheid. Denn Sie , Mr Keller, sind, wie ich aus berufener Quelle weiß, selbst ein Sozialist!«
Keller hatte sich nie besonders eingehend mit der sozialistischen Bewegung befasst. Und nicht die leiseste Ahnung, dass der Präsident der Columbia, der seine etwas liberalen Ansichten missbilligte, Rose erzählt hatte, er sei Sozialist. Daher starrte er sie zutiefst erstaunt an, was sie natürlich als Ausdruck von Schuldbewusstsein deutete.
»Aha«, sagte sie triumphierend.
»Nun«, sagte Hetty, als sie sah, dass die Dinge sich nicht ganz wunschgemäß entwickelten, »das ist alles sehr interessant, muss ich sagen.« Was, wie selbst Edmund Keller begriff, in diesen Kreisen ein Signal dafür war, dass man besser schleunigst das Thema wechseln sollte.
*
Anna wirkte sehr nervös. »Ich hoffe, sie fährt uns jetzt zurück«, flüsterte sie Salvatore zu, als die Mahlzeit beendet war. Doch Rose Master musste sich noch dringend unterhalten, und so blieben sie sich fürs Erste selbst überlassen.
War es falsch gewesen, von den italienischen Streikposten zu reden? Würde die Dame es Mr Harris erzählen und ihr Schwierigkeiten in der Fabrik bereiten?
Anna und Salvatore standen seit ein, zwei Minuten nebeneinander da, als die alte Dame, der das Haus gehörte, auf sie zukam, begleitet von einer anderen, nicht ganz so alten Dame.
»Ich bin Mrs Master«, sagte die alte Dame. »Ich wollte euch für euer Kommen danken.« Sie war sehr höflich. »Das ist meine Freundin Miss O’Donnell«, fügte sie hinzu.
Man konnte erkennen, dass auch die andere Dame sehr reich war, aber sie wirkte gütig und fragte die beiden Geschwister, wo sie denn wohnten.
»Ich habe früher nicht weit von dort gewohnt, direkt auf der anderen Seite der Bowery«, sagte sie. Anna schaute sie ungläubig an. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die elegante Dame in ihrem ganzen Leben je auch nur in der Nähe der Lower East Side gewohnt haben sollte, doch sie behielt das für sich. Die alte Dame sah den Ausdruck in ihrem Gesicht und lächelte. »Ich musste jeden Tag an Five Points vorbeilaufen.«
»Sie meinen, Sie haben wie wir in einem Mietshaus gewohnt?«, traute sich Anna endlich zu fragen.
»Ja.« Mary O’Donnell schwieg eine Weile, als hinge sie Erinnerungen nach. Dann warf sie Hetty Master einen Blick zu und lächelte. »Mein Vater war die meiste Zeit über betrunken, und gearbeitet hat er
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