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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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nie. Was unsere Wohnung angeht …« Sie schüttelte bei der Erinnerung den Kopf. »Am Ende musste ich einfach gehen.« Sie wandte sich wieder Anna und Salvatore zu. »Euer Vater scheint ein guter Mann zu sein. Was immer ihr tut, haltet eure Familie zusammen. Sie ist das Wichtigste auf der Welt.«
    In diesem Augenblick kehrte Rose zurück. Glücklicherweise schien sie mit allem sehr zufrieden zu sein und verließ mit ihnen das Haus. Und so erfuhr Anna nie, wie Mary O’Donnell aus der Lower East Side herausgekommen war.
    *
    Auf Hettys Bitte hin blieb Miss O’Donnell, bis alle anderen das Haus verlassen hatten. Mary wusste, dass es angenehm war, jemanden zu haben, mit dem man nach einer Gesellschaft eine Manöverkritik abhalten konnte.
    »Es ist gut gegangen«, sagte sie zu Hetty. »Dieses Essen wird allen im Gedächtnis bleiben. Und die Gespräche haben ohne Frage viel Stoff zum Nachdenken gegeben.«
    »Ich bin über Roses Auftritt nicht erfreut«, sagte Hetty.
    »Mr Keller hat sich sehr gut geschlagen.« 
    »Er meint es gut. Rose jedoch hat sich sehr illoyal verhalten.«
    »Das müssen wir ihr wohl verzeihen«, sagte Mary.
    »Mag sein, dass ich es verzeihe«, erwiderte Hetty, »aber ich will verdammt sein, wenn ich es vergesse!«
    »Das italienische Mädchen war reizend«, sagte Mary.
    »Apropos«, sagte Hetty. »Warum hast du ihr erzählt, dein Vater sei ein Trinker gewesen und habe nie gearbeitet? Dein Vater war ein durch und durch respektabler Mann. Ein Freund der Kellers. Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, als Gretchen mir alles über dich erzählte.«
    Mary schwieg und sah Hetty leicht verlegen an.
    »Als ich dieses Mädchen und ihren Bruder gesehen habe«, gestand sie dann, »und hörte, in welchen Verhältnissen sie leben, ist mir plötzlich alles wieder eingefallen. Ich weiß allerdings nicht, was über mich gekommen ist, das auch auszuplaudern.«
    Hetty starrte sie an. »Willst du, Mary O’Donnell, mir nach all den Jahren damit sagen, dass du dir eine Anstellung in diesem Haus unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen hast? Dass du keineswegs aus einer achtbaren Familie kamst?«
    »Ich glaube nicht, dass ich das fertiggebracht hätte. Aber Gretchen schon. Sie war meine Freundin.« Mary lächelte liebevoll. »Ich muss leider gestehen, dass sie dir damals die abscheulichsten Lügen erzählt hat.«
    Hetty dachte nach. »Nun«, sagte sie schließlich mit einem Seufzer, »dafür muss ich ihr wohl dankbar sein.«
    *
    Edmund Keller verbrachte einen angenehmen Abend mit seinem Vater und erfuhr erst am nächsten Morgen, wie die Versammlung in der Carnegie Hall gelaufen war.
    Was war das für ein Abend gewesen! Die Radikalen hatten einen glänzenden Redner aufgefahren, den Sozialisten Morris Hillquist. Mit hochfliegender Rhetorik erklärte er den Menschen in der dicht besetzten Halle, dass die Fabrikbesitzer und die Richter, die sie zu Geldstrafen verurteilt hatten, nichts anderes seien als die gepanzerten Fäuste der Unterdrückung. »Schwestern«, rief er aus, »eure Sache ist gerecht, und ihr werdet obsiegen!« Der Textilarbeiterinnenstreik sei nur der Anfang von etwas weit Wunderbarerem. Durch die Gewerkschaft könnten sie den großen sozialistischen Klassenkampf vorantreiben, der schon bald die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur in den Produktionsbetrieben der Lower East Side, sondern in der gesamten Stadt, ja in ganz Amerika von Grund auf verändern werde. Es war eine mitreißende Rede, und der Beifall kannte keine Grenzen.
    Auf Morris Hillquist folgte ein gemäßigter Rechtsanwalt, der vom Arbeitskampf abriet und stattdessen empfahl, rechtliche Schritte zu unternehmen. Doch seine Ansprache war so langweilig, dass das Publikum unruhig wurde. Und als daraufhin Leonora O’Reilly von der WTU sprach und den Anwalt kritisierte und den Frauen zuredete, dass ihr Streik mehr für die Gewerkschaftsbewegung geleistet habe als sämtliche Sermone der letzten zehn Jahre, jubelten sie auch ihr zu. Kein Wunder, dass sich alle in Hochstimmung befanden.
    Doch es gab auch Unzufriedene. Tammany Hall war an politischer Macht interessiert, nicht an Revolution. Die konservativen Führer der großen amerikanischen Gewerkschaften, Männer wie Sam Gompers, hielten es ebenfalls für keine gute Strategie, die Revolution zu predigen. An diesem Abend, der für viele den Aufbruch in eine neue Zeit zu markieren schien, begann in Wahrheit die Solidarität in den verräucherten Räumen der Gewerkschaftsbewegung zu

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