Im Rausch der Freiheit
behauptete, er habe heimlich dafür gespart. Alle freuten sich. Salvatore bekam eine Taschenuhr; Anna ein schönes Schultertuch. Doch Concetta machte ein besorgtes Gesicht. Silvester nahm sie Salvatore ins Kreuzverhör. Er log, so wie Paolo es ihm aufgetragen hatte, aber er sah seiner Mutter an, dass sie ihm nicht glaubte.
»Er arbeitet für irgend so einen camorrista« ,sagte sie. Damit bezeichnete sie jede Sorte von üblen Menschen. »Oder vielleicht sogar noch schlimmer. Vielleicht für die Mano Nera. « Die Schwarze Hand. Das war keine eigentliche Organisation. Jede Gang, die jemandem – gewöhnlich wohlhabenderen Landsleuten – Geld abpressen wollte, versuchte ihrem Opfer dadurch noch mehr Angst einzujagen, dass sie das gefürchtete Symbol der Schwarzen Hand verwendete.
»Nein«, sagte Salvatore.
»Da ist allein die Polizei dran schuld«, sagte seine Mutter. »Warum unternimmt die nichts?«
Von den dreißigtausend Polizisten in der Stadt – darunter viele irischkatholische Glaubensbrüder – sprach kaum einer Italienisch. Sicher, das NYPD hatte ein italienisches Dezernat gegründet. Aber dessen Leiter war anlässlich eines Besuchs in Sizilien von einem Gangster namens Don Vito getötet worden, und danach hatte das Dezernat jegliche Bedeutung verloren. Solang die italienische Kriminalität die Grenzen von Little Italy nicht verließ, hielt sich die New Yorker Polizei weitgehend heraus.
An diesem Abend warf Concetta ihrem Sohn vor, ein Verbrecher zu sein. Doch Paolo stritt alles ab und wurde sehr wütend; und am Ende erklärte sein Vater, er wolle nichts mehr über das Thema hören.
*
Der Verehrer tauchte im März 1911 auf. Eines Abends hatten Salvatore, Angelo und Anna wieder einmal im Restaurant vorbeigeschaut, in dem Onkel Luigi arbeitete. Sie hatten kurz warten müssen, und dabei war Salvatore ein gutaussehender junger Mann aufgefallen, der sie alle mit Interesse beobachtete. Schon bald darauf hatte er die ganze Sache vergessen. Am nächsten Tag aber hatte er Onkel Luigi auf der Straße getroffen, der unbedingt etwas loswerden musste.
Offenbar war Anna dem jungen Mann schon mehrmals aufgefallen. Er hieß Pasquale und war ein sehr respektabler Büroangestellter. Er würde sie gern kennenlernen, war aber ein bisschen schüchtern.
»Wenn du ihn schon kennen würdest«, gab Onkel Luigi mit einem Augenzwinkern zu bedenken, »wäre es ja ganz natürlich, dass er eines Tages auch Anna kennenlernt.«
»Und wenn er mir nicht gefällt, dann lernt Anna ihn nicht kennen?«, fragte Salvatore.
»Si, si, natürlich.«
Salvatore erklärte sich einverstanden, und am nächsten Tag schaute er im Restaurant vorbei, als Pasquale dort gerade einen caffè und einen dolce zu sich nahm. Die beiden kamen miteinander ins Gespräch. Zu Onkel Luigis großer Freude fand Salvatore den jungen Mann sympathisch. Seine Familie war nicht reich, aber sie hatte immer noch mehr Geld als die Carusos. Am Ende des Gesprächs wurde vereinbart, dass Salvatore am folgenden Samstag wie gewohnt mit Anna im Restaurant vorbeischauen sollte. Wenn er Pasquale dort sah, würde er ihn Anna vorstellen, und Onkel Luigi würde ihnen allen einen dolce spendieren.
Salvatore genoss seine neue Rolle in vollen Zügen. Er freute sich auf nächsten Samstag. Er fragte sich, wie viel er Anna schon erzählen sollte.
*
Am Samstag, den 25. März 1911, ging Anna wie gewohnt zur Arbeit. Es war ein schöner Tag. Der Samstag war der kürzeste Arbeitstag in der Triangle Factory. Die Arbeit begann um neun und endete um Viertel vor fünf, mit einer Mittagspause von 45 Minuten. Als sie bei der Fabrik eintraf, wartete draußen schon eine große Menge drauf, eingelassen zu werden.
Es war zwar Sabbat, und sowohl die Besitzer als auch der größte Teil der Belegschaft waren Juden, aber nur eine Handvoll Leute bei Triangle beachteten den jüdischen Schabbes, so dass an diesem Tag fast fünfhundert Leute hier arbeiten würden.
Das Gebäude verfügte über zwei Eingänge: einen auf dem Washington Place, den anderen, um die Ecke, auf der Greene Street. Anna trat vom Washington Place her und stieg die Treppe hinauf. Der Aufzug war den leitenden Angestellten und Besuchern vorbehalten.
Die Triangle Factory nahm die drei obersten Stockwerke des Gebäudes ein: den siebten, achten und neunten. Auf der Treppe traf sie Yetta, ein jüdisches Mädchen, das im 10. Stock arbeitete, und da sie gerade mitten im Gespräch waren, folgte sie ihr in die Werkhalle. Außer den
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