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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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schwächein. Und etwas anderes fing an, rapid zu schwinden: das Geld in den Kassen.
    Hatte Roses Intervention bei Hettys Essen Auswirkungen? Vielleicht. Eines allerdings war sicher: Anne Morgan schätzte das, was sie in der Carnegie Hall gehört hatte, überhaupt nicht. Schon am Tag darauf ließ sie jeden wissen, dass sie zwar die Rechte der Textilarbeiterinnen, nicht aber den Sozialismus unterstützen werde. Ihr Geld würde jedenfalls nicht dazu dienen, eine Revolution in Gang zu bringen. Und auch andere reiche Spender folgten ihrem Beispiel.
    Es wurde Anfang Februar, ehe der Streik endete. Die Frauen erreichten eine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf nunmehr zweiundfünfzig Stunden; auch wurde ihnen das Recht zugestanden, einer Gewerkschaft beizutreten. Aber Triangle und die übrigen Betriebe konnten einstellen, wen sie mochten: gewerkschaftlich Organisierte – oder eben auch nicht.
    Edmund Keller nahm an, dass Rose mit dem Resultat letztlich zufrieden sei. Es hatte ihn gewundert, dass sie ihn für einen Sozialisten hielt, aber da er keiner war, hatte er den Vorwurf der Hitze des Gefechts zugeschrieben und mit einem Achselzucken abgetan.
    Ihm war nicht klar, dass Rose Master – davon überzeugt, er sei ein Sozialist und habe versucht, sie öffentlich lächerlich zu machen -jetzt tatsächlich seine Feindin geworden war.
    *
    1910 wurde für Salvatore ein glückliches Jahr. Er war jetzt vierzehn und fing allmählich an, sich wie ein junger Mann zu fühlen. Außerdem hatten er und Anna beschlossen, dafür zu sorgen, dass der kleine Angelo kräftiger wurde. Anna gab ihm mehr zu essen. Jeden Tag, wenn sie gemeinsam von der Triangle Factory heimkehrten, machten sie Zwischenstation im Restaurant, in dem Onkel Luigi arbeitete, und der Besitzer gab ihnen eine kleine Tüte mit Essensresten. Für den Mickerling, sagte er stets.
    Salvatores Methode war handfester. Er bastelte kleine Hanteln und zwang seinen neunjährigen Bruder, damit jeden Tag in seiner Gegenwart zu üben. »Ich baue seine Muskeln auf«, erzählte er jedem. Im Sommer fing er an, ihn zum East River mitzunehmen, wo die Jungen des Viertels, obwohl es verboten war, schwimmen gingen. Als Anna davon erfuhr, wurde sie wütend. »Das Wasser ist dreckig! Er holt sich da noch was!«, schrie sie. Doch die Monate verstrichen, und Angelo schien tatsächlich kräftiger zu werden. Seine Verträumtheit legte er allerdings nicht ab.
    Anna war mit achtzehn zu einer jungen Frau erblüht, obwohl sie fast genauso schlank blieb wie als junges Mädchen. Die Männer drehten sich auf der Straße nach ihr um; einen Verehrer hatte sie allerdings nicht, und sie behauptete auch, sie habe keinen Bedarf. Für Salvatore stand eines fest. »Wenn ein junger Mann mal deinetwegen hier anklopft«, versicherte er ihr, »wird er nicht nur an Vater vorbeikommen müssen – ich werde ihn mir ebenfalls genauestens anschauen!« Für seine Schwester würde nur der Beste gut genug sein.
    »Und wenn du nicht mit ihm einverstanden bist?«, neckte sie ihn.
    »Dann schmeiß ich ihn in den East River«, sagte er. Und das war sein Ernst.
    Am 1. Dezember hatte Anna Geburtstag, und vier Tage später lud Onkel Luigi die ganze Familie ins Theater ein. Sie gingen in die American Music Hall an der 42nd Street und sahen sich The Wow Wows an, ein Stück einer britischen Theatertruppe auf Amerikatournee. Der Star war ein begabter junger Schauspieler namens Charles Chaplin. Sie amüsierten sich alle königlich. Die Woche darauf teilte Anna der Familie mit, dass sie eine Lohnerhöhung erhalten habe. Sie würde jetzt dreizehn Dollar die Woche verdienen. So klang das Jahr gut aus.
    Von einer Sache abgesehen.
    Es war ein strahlender Oktobermorgen gewesen, als Paolo mitten in einer ihrer Schuhputzrunden Salvatore eröffnete, er müsse jetzt allein weitermachen, weil er etwas anderes zu erledigen habe. »Wir treffen uns um vier Ecke Broadway und Fulton«, sagte er, und bevor Salvatore irgendwelche Fragen stellen konnte, war er weg.
    Als er am Nachmittag wieder auftauchte, schärfte er Salvatore ein, ja nichts von seiner Abwesenheit zu erzählen. »Da ist ein Mann, für den ich gelegentlich arbeite«, sagte er. »Das ist alles.« Er legte etwas Geld hin, ungefähr so viel, wie er mit Schuhputzen verdient hätte, aber Salvatore vermutete, dass sein Bruder noch mehr davon in der Tasche hatte.
    Die Prozedur wiederholte sich und wurde bald zur Regel. Zu Weihnachten kaufte er Geschenke für die ganze Familie,

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