Im Rausch der Freiheit
herrschten.
Und jetzt fing die Dame an, ihr Fragen zu stellen.
»Gibt es in der Fabrik eine Gewerkschaft?«, fragte Rose.
»In der Fabrik gibt es eine eigene Gewerkschaft.«
»Und dann die Frauengewerkschaft WTU, die die Besitzer nicht mögen. Wolltest du ihr beitreten?«
»Nein.«
»Als also die Besitzer die Arbeiterinnen aussperrten, was wurde aus dir?«
»Meine Eltern wollten, dass ich weiterarbeite. Auch unser Priester sagte, dass ich arbeiten sollte. Also bin ich zu Mr Harris in die Fabrik gegangen.«
»Und er hat dir deine Stelle wiedergegeben?«
»Ja.«
»Stellte er neue Mädchen für die Arbeit in der Fabrik ein?«
»Ja.«
»Sind das größtenteils Italienerinnen, anständige katholische Mädchen wie du?«
»Ja.«
»Die Mädchen, die ihre Arbeit verloren haben – die, die der WTU beigetreten sind –, sind das größtenteils Jüdinnen?«
»Ja.«
»Danke, meine Liebe. Du kannst dich setzen.« Rose wandte sich an die versammelten Damen. »Ich glaube, jede von Ihnen kann sehen, dass dies eine ehrliche junge Frau ist«, stellte sie fest. »Und ich habe keinen Zweifel daran, dass in manchen Fabriken tatsächlich Missstände herrschen, die angesprochen werden sollten. Doch ich meine, dass Vorsicht geboten ist. Was ist es, was die jüdischen Mädchen wollen und Anna nicht will? Streiken sie wirklich für bessere Arbeitsbedingungen, oder ist ihre Zielsetzung nicht vielmehr politischer Natur? Wie viele von diesen Russen sind Sozialisten?« Sie blickte triumphierend in die Runde. »Dies ist eine Frage, die, wie ich glaube, gestellt werden sollte.«
Rose genoss das Schweigen, das nun folgte. Zunächst einmal hatte sie ein bisschen gesunden Menschenverstand in die Sache gebracht. Die alte Hetty konnte sich trotzdem auf ein bisschen Ruhm freuen – ihr Essen würde bestimmt in Erinnerung bleiben –, doch nicht ganz so wie geplant. Hauptsache, das Ansehen der Familie war gerettet. Noch am selben Abend würde in mehreren Zeitungen über dieses Essen und die Rede berichtet werden.
Hetty bekam zunächst kein Wort heraus. Sie konnte es nicht glauben. Die Frau ihres eigenen Enkels war eigens gekommen, um ihr Fest mit diesem Akt öffentlicher Illoyalität zu verderben. Ihre Reaktion war ebenso unmittelbar wie natürlich. Zweifellos wusste Rose, dass das Treuhandvermögen ohnehin irgendwann William zufallen würde, aber wenn sie sich einbildete, dass sie auch nur eine Stecknadel aus diesem Haus erbte, dann täuschte sie sich gewaltig.
Hetty sah sich nach jemandem um, der die Sache noch retten könnte. Ihr Blick blieb an Edmund Keller hängen. Einen Versuch war es wert.
»Nun, Mr Keller«, fragte sie, »werden Sie für uns dazu ein paar Worte sprechen?«
Edmund Keller schwieg kurz. Er mochte die alte Hetty Master, und er war ihr gern gefällig. Aber noch mehr lag ihm die Wahrheit am Herzen. Und die war komplexer, als Rose sie erscheinen ließ.
Er kannte die Verhältnisse in der Stadt gut genug, um zu wissen, dass die russischen Einwanderer, die religiöse und politische Verfolgungen erduldet hatten, fest entschlossen waren, alles zu bekämpfen, was in ihrer neuen Heimat nach Unterdrückung aussah. Die Italiener dagegen flohen lediglich vor der Armut. Sie schickten Geld nach Italien; viele von ihnen planten nicht einmal, auf Dauer in Amerika zu bleiben – manchmal sah man am Hafen mehr heimkehrende als ankommende Italiener. Sie hatten also weniger Grund, Unruhe zu stiften oder sich politisch zu betätigen. Und sie fanden sich vielleicht eher mit schlechter Behandlung ab, als es vernünftig sein mochte. Die Sachlage war keineswegs eindeutig. Und wenn es etwas gab, das Edmund Keller als Wissenschaftler verabscheute, so waren es Menschen, die das Beweismaterial so weit simplifizierten, dass es in die Irre führte.
»Stehen vor der Triangle Factory Streikposten?«, fragte er Anna.
»Ja, Sir.«
»Gehören jüdische Mädchen zur Streikpostenkette?«
»Ja, Sir.«
»Und gehören auch italienische Mädchen dazu?«
»Ja, Sir.«
»Sind möglicherweise – ich weiß nicht – ein Viertel der Streikposten Italienerinnen?«
»Ich glaube schon.«
»Warum stehen Sie selbst nicht dort?«
Anna zögerte. Sie erinnerte sich an den Tag, als die Frau von der WTU sie auf dem Weg zur Arbeit angesprochen und gefragt hatte, warum sie alle anderen Mädchen verrate. Sie empfand schreckliche Schuldgefühle, doch als sie an dem Abend ihren Eltern davon erzählte, verbot ihr Vater ihr, das Thema je wieder
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