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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Ja, sie hätte wirklich nichts dagegen, in Sachen Mode ausnahmsweise einmal an vorderster Front zu stehen.
    Und der Näherinnenstreik war momentan der Dernier Cri. Diese armen Mädchen in den Fabriken fanden ihr ungeteiltes Mitgefühl, auch wenn sie nicht bis ins Detail zu wissen glaubte, worum es bei der ganzen Sache eigentlich ging. Doch der heutige Lunch würde unvergessen bleiben. Mal sehen, ob sich Hetty Master nicht wenigstens eine Erwähnung in einer Fußnote der Geschichte New Yorks sichern konnte!
    Mit entsprechender Befriedigung ließ sie den Blick über ihre Tischgäste gleiten.
    Edmund Keller einzuladen war ein später Einfall gewesen. Sie hatte ihn vergangene Woche im Haus seines Vaters getroffen und ihn hinzugebeten, da es doch immer nett war, einen Mann dabeizuhaben. Rose hingegen wollte sie eigentlich überhaupt nicht einladen. Ja, sie war überrascht gewesen, als die Frau ihres Enkels von der Sache Wind bekam und daraufhin ihr Kommen ankündigte. »Das ist nicht nötig, Liebes«, versuchte sie abzuwehren. Doch Rose war so hartnäckig geblieben, dass sie nachgeben musste. Und jetzt war sie mit zwei jungen Personen aus der Lower East Side erschienen und bestand darauf, dass sie neben ihr sitzen sollten. Hatte sie sich etwa zur guten Sache bekehrt?
    Die Tischgespräche kreisten ausschließlich um die bevorstehende Versammlung. Wichtige Gewerkschaftsleute würden anwesend sein. Samuel Gompers, der Gewerkschaftsführer, und seine Stellvertreter vertraten einen gemäßigten Kurs; sie wollten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, aber sie bestanden nicht darauf. Andere mit einem politischen Programm konnten da schon penetranter auftreten. Niemand wusste, was passieren würde. Es war alles furchtbar spannend. Sie hatte ihre Schwiegerenkelin und deren junge Leute schon fast vergessen, als Rose – es wurde gerade der Hauptgang serviert – plötzlich aufstand und mitteilte, es gebe da eine junge Frau vom Textildistrikt, die sie bitte alle anhören sollten. Dann wandte sie sich zu der jungen Frau an ihrer Seite und sagte: »Du kannst jetzt aufstehen, meine Liebe.«
    *
    Anna Caruso warf Salvatore einen kurzen Blick zu. Sie war nur unter der Bedingung mitgekommen, dass ihr Bruder dabei sein würde, um sie zu beschützen. »Erzähl einfach deine Geschichte mit einfachen Worten, so wie du sie mir erzählt hast«, hatte Rose gesagt. Aber mit diesen vielen Leuten konfrontiert, diesem großen Haus, und im Bewusstsein der Tatsache, dass ihr Englisch noch immer zu wünschen übrig ließ, konnte sie eine gewisse Nervosität nicht unterdrücken.
    Sie war überrascht gewesen, als Mr Harris sie vergangene Woche in der Fabrik zu sich bestellt hatte. »Diese Dame«, erklärte er, »möchte mit einer unserer loyalen Arbeiterinnen sprechen, und ich habe ihr gesagt, dass du ein vernünftiges Mädchen bist.« Es war ziemlich klar gewesen, was er von ihr verlangte. Also erzählte sie der Dame, was sie wissen wollte. Dann sagte die Dame, dass sie gern zu ihr nach Haus kommen und ihre Familie sprechen würde. Also holte Anna am Ende des Arbeitstages Salvatore und Angelo im Park ab, und die Dame fuhr sie alle in ihrem Wagen zur Mulberry Street. Der Anblick des Rolls-Royce, der vor ihrer Haustür anhielt, sorgte für beträchtliche Aufregung. Als die Dame meinte, sie wolle sie am kommenden Sonntag abholen, damit sie ihren Freundinnen von der Fabrik berichtete, meldete ihr Vater Bedenken an, doch als Mrs Master ihm ihre Visitenkarte mit ihrer Adresse gegeben und zwanzig Dollar für die Ungelegenheit angeboten hatte, war man sich einig geworden, dass Anna, sofern sie jemand begleitete, mitfahren dürfe.
    »Mein Name ist Anna«, begann sie jetzt, »und meine Familie wohnt in der Mulberry Street.«
    Sie erzählte, dass sie aus Italien nach Amerika ausgewandert seien, als sie noch ein kleines Mädchen war, dass ihr Vater in der Panik von 1907 seine ganzen Ersparnisse verloren habe, dass ihre Brüder von der Schule hätten abgehen müssen und dass sie jetzt alle arbeiteten, um wieder auf die Füße zu kommen. Sie merkte rasch, wie sehr den Damen ihre Geschichte gefiel. Als sie schließlich den Verlust der Ersparten erwähnte, wurde mitfühlendes Murmeln laut, und als sie versicherte, dass sie alle sehr hart arbeiteten, klatschten die Zuhörer sogar Beifall. Anna erklärte, wie schwierig es für ihre Mutter sei, zu Hause zu arbeiten, und dass sie selbst bei der Triangle Factory angeheuert habe, weil da bessere Arbeitsbedingungen

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