Im Rausch der Freiheit
Bekanntschaften zu machen und sich in der Umgebung der Tin Pan Alley herumzutreiben und zu versuchen, Theaterstücke und Songs zu schreiben, das war für einen jungen Mann, der alles besaß, wofür es sich zu leben lohnte, eine schockierende Verschwendung. Als er einmal gestand, er würde gern so wie Eugene O’Neill schreiben, reagierte Rose entsetzt. »Aber das ist doch ein Trinker!«, hatte sie sich empört. »Und seine Freunde sind Kommunisten!«
Seltsamerweise entwickelte sein Vater sich zu seinem heimlichen Verbündeten. William hatte ihm einen Posten in seiner Firma gegeben, doch der Arbeitsaufwand war sehr gering, und solange er sich für ein paar Stunden am Tag blicken ließ, schien sein Vater zufrieden zu sein.
»Geld verdienen«, gab William zu, »ist genau genommen recht langweilig. Ich habe mehr Spaß mit meinem Auto.«
Wenngleich das wahrscheinlich stimmte, schätzte Charlie, verdiente sein Vater zusätzlich zu dem Vermögen, das er geerbt hatte, eine gewaltige Menge hinzu.
Den meisten Leuten, die er kannte, schien es finanziell gut zu gehen. Nach Ende des Großen Krieges war zwar die übliche Nachkriegsrezession eingetreten, doch sie hatte nicht lang gedauert. Und sobald sie vorüber war, begannen – zumindest in New York – die Roaring Twenties.
Es war toll, zu dieser Zeit ein New Yorker zu sein. Das vom Krieg ausgeblutete Europa hatte sich noch nicht wieder aufgerappelt. Das britische Empire war empfindlich geschwächt. London war nach wie vor ein wichtiges Finanzzentrum, aber New York war mittlerweile reicher und mächtiger. Von Anti-Trust-Gesetzen und anderen Sicherheitsmaßnahmen geschützt, waren überall in Amerika bescheidene Unternehmen entstanden. Die amerikanische Industrie und die Großstädte boomten. Aber das eigentliche Finanzzentrum, durch das dieser neue Reichtum strömte, war New York. Die Wall-Street-Männer kauften sich überall ein, handelten mit Aktien, und die Preise gingen in die Höhe. Wann immer Wertpapiere den Besitzer wechseln, werden Börsenmakler reich. Spekulanten werden noch reicher. William Master spekulierte, aber sein wichtigstes Standbein war die Maklerfirma, die ihm mittlerweile praktisch gehörte.
Wenn sein Vater sich seinen literarischen Ambitionen gegenüber so verständnisvoll zeigte, dann hatte dies – wie Charlie scharfsinnig vermutete – zwei Gründe. Erstens, dass William es für klüger hielt, sich väterlicher Milde zu befleißigen, als es auf einen Krach mit seinem Sohn ankommen zu lassen. Zweitens, dass die Familie mittlerweile so viel Geld hatte, dass es eigentlich egal war.
Und Charlie war glücklich. Er liebte das Village mit seiner intimen Atmosphäre, seinen Theatern, seinen Schriftstellern und Künstlern. Er nahm das bescheidene Gehalt, das sein Vater ihm zahlte, und fragte nie nach mehr. Er erschien zu Gesellschaften, wenn seine Mutter es wünschte, und verhielt sich liebenswürdig zu ihren Gästen, die ihn geistreich und amüsant fanden. Wenn er gerade irgendwelche Schlager für die Musikverleger der Tin Pan Alley geschrieben hatte, zeigten sie sich darüber entzückt. Sie versprachen, zu seinem Stück zu kommen, wenn es inszeniert werden würde. »Junge Leute führen heutzutage ein so aufregendes Leben!«, sagten sie.
Was ihn auf Peaches brachte. Seine Eltern hatten Peaches bislang noch nicht kennengelernt, und seine Mutter musterte sie zurückhaltend.
»Was für ein wunderhübscher Ring, meine Liebe!«, sagte sie endlich.
Peaches trug ein kurzes Kleid und einen schicken Mantel mit pelzbesetztem Schalkragen, den sie, als sie sich setzte, geöffnet hatte. Unter dem Glockenhut schaute ihr kurzgeschnittenes Haar hervor. Ihre Lippen waren dunkelrot. Während der Kellner ihre Getränke holte, hatte sie eine Zigarettenspitze gezückt, eine Zigarette hineingesteckt und einen langen Zug genommen, um dann den Rauch höflich über Roses Kopf hinweg zu blasen. Der Ring war ein elegantes Art-Déco-Stück, zwei in Weißgold-Filigran gefasste Granate. Die Steine hatten die gleiche Farbe wie ihre Lippen.
»Den hat ein Freund gemacht«, sagte sie stolz.
Rose hatte für flappers nichts übrig. Sie fand, dass sie mit ihren Frisuren wie Jungen aussahen und viel zu kurze Kleider trugen. Vor dem Krieg hatte die Gibson-Girls-Mode – die Puffärmelblusen und Glockenröcke, die Schneidereibetriebe wie die Triangle Factory produzierten – eine neue weibliche Freiheit suggeriert. Und das Ende des Krieges hatte den Frauen eine sehr reale neue Freiheit
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