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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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geschenkt: das Wahlrecht. Doch in Roses Augen bedeutete Freiheit Verantwortung – die Flappers schienen hingegen zu meinen, auch in Fragen der Moral »frei« sein zu dürfen. Sie rauchten und sie tanzten Charleston; viele von ihnen frönten mit Sicherheit sogar der freien Liebe. Und sie schienen geradezu allgegenwärtig zu sein.
    Es überraschte Rose nicht, dass Charlie sich mit einer solchen Frau eingelassen hatte, aber wie immer war sie von ihm enttäuscht.
    »Wo kommen Sie her?«, fragte sie das Mädchen.
    »London.« Sie sah gelangweilt aus. Charlie schien das aus unerfindlichen Gründen äußerst witzig zu finden. »Auch Paris«, fügte sie hinzu. »Dann Washington.«
    »Hat es Ihnen in Washington gefallen?«, fragte Rose kalt.
    »Ich fand’s öde.«
    »Und wo haben Sie Charlie kennengelernt?«
    »In einem Speakeasy. Er war schicker.«
    »Ich war hackevoll«, sagte Charlie grinsend.
    »Aber ich hab ihm gleich angesehen, dass er kein Ganove war«, fügte Peaches verbindlich hinzu.
    »Ich bin nur ein beschriebenes Blatt«, sagte Charlie.
    »Mit dummem Zeug.«
    Wie sehr Rose diese Jugendsprache verabscheute! Sie kamen sich so gescheit vor! Sie vermutete außerdem dunkel, dass Peaches weder in London noch in Paris und wahrscheinlich auch nicht in Washington gelebt hatte – und ob das nur ihre Art war, eine ältere Dame wissen zu lassen, dass sie nicht beabsichtigte, irgendwelche Fragen zu beantworten, wenn ihr nicht danach war.
    »Arbeiten Sie in der City?«, fragte Rose.
    »In der Musikindustrie.«
    Hier schaltete sich William Master ein. Er liebte Broadwaymusicals. Erst die Woche zuvor war er in der Premiere von Kaufmans The Cocoanuts gewesen mit den Marx Brothers in den Hauptrollen. Er fragte Peaches, ob sie es gesehen habe, und ihm wurde die Gunst eines Lächeln zuteil. »Es ist gut«, stimmte sie ihm zu.
    »Meinen Sie, das schlägt ein?«
    »Ja. Und dann geht’s auf Tournee. Die Gershwins haben diesen Monat auch ’ne Premiere.«
    »Ich weiß. Tip-Toes. Wir haben Karten. Möchten Sie und Charlie mitkommen?«
    Dies brachte ihm ein weiteres Lächeln ein.
    »Wir kommen«, sagte Charlie. »Nachdem Vater letztes Jahr bei der Aufführung von Rhapsody in Blue war«, sagte er zu Peaches, »meint er, das sei das schönste Musikstück, das er je gehört habe.«
    »Das ist gut.« Sie wandte sich zu William. »Ich könnte noch einen Drink gebrauchen.«
    »Sie trinken gern?«, fragte Rose spitz.
    »Sie hat immer etwas Sprit dabei«, sagte Charlie vergnügt.
    Rose warf einen Blick auf das Handtäschchen, mit dem Peaches erschienen war. Es schien ihr zu klein, als dass mehr als Lippenstift und Puderdose hineinpassen würden. Peaches lachte.
    »Nicht da!«, sagte sie. Sie stand auf und zog ihren kurzen Rock hoch. Auf halber Höhe ihres Oberschenkels prangte ein Strumpfband. Und darüber, in den Strumpf gesteckt, ein silberner Flachmann. »Hier«, sagte sie.
    Rose riss die Augen auf. Sie bemerkte, dass ihr Mann ebenfalls auf den Oberschenkel des Mädchens starrte, und zwar ohne erkennbares Missfallen.
    »Nun, meine Liebe, es tröstet mich, dass Sie dafür eine so bequem zu erreichende Stelle gefunden haben.«
    Erst als sie wieder auf dem Heimweg waren, brachte Rose ihrem Mann gegenüber ihre ehrliche Ansicht zum Ausdruck. »Es ist höchste Zeit«, sagte sie bestimmt, »dass du Charlie eine richtige Arbeit gibst.«
    *
    Anfang des folgenden Junis fuhr Salvatore mit Angelo nach Coney Island. Jeder, der den Ort zuletzt ein halbes Jahrhundert zuvor besucht hatte, damals noch ein Dorf am Meer, wäre erstaunt über den Wandel. Zuerst kam ein Karussell, dann eine Achterbahn, es folgten Varietés und Vergnügungsparks. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hätte man hier an einem Sommertag mehr als hunderttausend Besucher zählen können. Mittlerweile war Coney Island sogar mit der Untergrundbahn zu erreichen.
    Es war ein warmer Tag. Sie schlenderten die Uferpromenade entlang am Brighton Beach Hotel vorbei, dann den Oriental Boulevard entlang, setzten sich in ein Lokal und aßen einen Eisbecher. Angelo war von dem lebhaften Treiben auf Coney Island schier bezaubert, und Salvatore machte ihn auf die hübschen Mädchen aufmerksam, die im Meer badeten.
    Sie standen vor den knallbunten Lichtern des Luna Amusement Park, als ihm die zwei jungen Frauen ins Auge fielen. Dem Aussehen nach hätten sie Italienerinnen sein können, aber sicher war er sich nicht. Eine von beiden war zu groß für seinen Geschmack, doch die andere erregte seine

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