Im Rausch der Freiheit
wurde meinem Vater, dem Photograph Theodor Keller, das Glück zuteil, die Aufmerksamkeit einer der ältesten führenden Familien dieser Stadt zu gewinnen, wodurch Mr und Mrs Frank Master zu seinen Gönnern wurden und ihm zu einer erfolgreichen und, wenn ich das Wort verwenden darf, herausragenden Laufbahn verhalfen. Vor ein paar Jahren war mir an der Columbia das Vergnügen vergönnt, deren Urenkel Charles Master zu unterrichten – den ich mittlerweile als Freund betrachte. Und ich weiß, wie entzückt, wenn er uns jetzt sehen könnte – und ich hoffe, er kann’s –, mein Vater wäre, dass heute sein Sohn die Ehre hat, das Wohlwollen und die Förderung der Familie Master zu genießen!«
Sechzig Jahre Mäzenatentum, eine der ältesten führenden Familien der Stadt. Alter Geldadel. Rose strahlte ihn an. Dieser Empfang war wirklich erfolgreicher geworden, als sie es sich hätte erträumen lassen.
*
Seit einigen Jahren kam es nicht mehr allzu häufig vor, dass Onkel Luigi in die Kirche ging, doch am Sonntag tat er’s, und um ihm Gesellschaft zu leisten, ging Salvatore mit.
Die letzten zwei Wochen waren für Onkel Luigi sehr schwierig gewesen. Wie vom Sachbearbeiter der Maklerfirma vorhergesagt, war der Aktienindex gestiegen und hatte sich dem Höchststand von Anfang September immer mehr angenähert. Dennoch konnte Onkel Luigi nicht umhin, sich Sorgen zu machen. Seine Ersparnisse hatten sich wirklich beachtlich vermehrt. Zwar wollte er noch nicht aufhören zu arbeiten, aber wenn er es einmal tat, würde er genug für einen ziemlich beschaulichen Lebensabend haben. Außerdem hatte er bereits heimlich testamentarisch verfügt, dass Salvatore einst sein Geld erben würde. Das erschien ihm nur gerecht. Insofern fühlte er sich sowohl in seinem eigenen Interesse als auch in dem seines Neffen verpflichtet, diese Ersparnisse zu schützen.
Schon mehrmals war er drauf und dran gewesen, alles zu verkaufen. Jedes Mal hatte er aber die Stimme des Mannes aus der Maklerfirma in seinem Kopf hallen hören: »Es täte mir unendlich leid, wenn Sie das verpassen würden.«
Zuletzt beschloss er – in der Hoffnung, dass ein Gang in die Kirche ihm eine Inspiration oder zumindest einen klaren Kopf bescheren würde –, es mit der Religion zu versuchen.
Die Transfiguration Church war an dem Morgen ziemlich gut besucht. Dennoch übersah der Priester nicht, dass mit Luigi, den er sehr gut kannte, ein eher seltener Messebesucher erschienen war. Da er auch nicht gebeichtet hatte, verzichtete Luigi lieber darauf, die Hostie zu empfangen – er wollte dem Priester zudem nicht so direkt unter die Augen treten. Die Predigt hörte er sich allerdings aufmerksam an.
Es ging darin um Christi Versuchung in der Wüste. Onkel Luigi wunderte sich, dass der Priester sich gerade dieses Thema vornahm, denn normalerweise gehörte es in die Fastenzeit, aber er passte gut auf. Der Priester erinnerte die Gemeinde daran, dass der Teufel unseren Herrn auf die Zinne des Tempels stellte und ihn herausforderte, sich hinabzustürzen, da die Engel ihn sicherlich erretten würden. »Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen«, hatte Christus erwidert. Wir müssen Gottes Willen hinnehmen, erklärte der Priester. Wir dürfen uns nicht überheben oder darauf wetten, dass Gott uns beispringen wird. Dies und viel mehr sagte der Priester, und Onkel Luigi hörte aufmerksam zu.
Salvatore hingegen fand das alles wenig berückend. Er wurde vor Langeweile schon ganz zappelig.
»Ich könnte schwören, ich hab die gleiche Predigt schon mal als Kind gehört«, sagte er zu seinem Onkel, als sie die Kirche verließen.
»Und was denkst du beim zweiten Mal darüber?«
»Nicht viel«, sagte er.
Onkel Luigi aber dachte über die Predigt nach. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf.
*
Mittwoch, der 23. Oktober, war ein windiger Tag. Wie gewöhnlich ließ sich William Master in seinem Rolls-Royce in die Firma fahren.
Mittlerweile gab es eine ganze Anzahl Rolls-Royce in der Stadt. Zehn Jahre zuvor hatte das Unternehmen noch eine Fabrik in Springfield, Massachusetts, eröffnet. Aber nach wie vor waren es nur die Reichsten, die diese Automobile besaßen. Der Anblick von Mr Master, der jeden Morgen im Rolls vor seiner Maklerfirma vorfuhr, war geradezu eine Tradition geworden. Er war beruhigend und damit gut fürs Geschäft.
William besaß dieses Modell seit fünf Jahren. Der prächtige alte Silver Ghost war inzwischen dem Phantom gewichen. Williams Phantom – mit einer Karosserie
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