Im Rausch der Freiheit
Aktienmarkt. Rose wusste, dass der Index nach Ansicht einiger Leute viel zu hoch war, und sie erinnerte sich an den furchtbaren Schrecken von 1907. Ihr Mann hingegen schien sich keine Sorgen zu machen. Die Bedingungen seien heutzutage ganz andere, versicherte er ihr.
»Apropos«, sagte Charlie zu seinem Vater, »wusstest du, dass wir einen neuen Konkurrenten haben, direkt gegenüber von unserer Geschäftsstelle?« Er grinste. »Rat mal, wer das ist. Der Schuhputzer.«
»Der Schuhputzer?«, rief seine Mutter aus.
»So wahr mir Gott helfe. Er wichste mir gerade die Schuhe, und da fängt er an, mir Börsentipps anzubieten. Er hat ein eigenes Portefeuille. Gute Neuigkeiten übrigens: Der Junge hat mir verraten, dass die Kurse wieder steigen werden.«
»Ist er unser Kunde?«, sagte sein Vater mit einem Lächeln.
»Ich glaube nicht.«
»Na, dann hol ihn ins Boot! Verdien dir eine Provision, Junge.«
»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«, sagte Rose.
William zuckte die Achseln. »Jeder spekuliert heute an der Börse, Rose«, sagte er.
»Ich habe noch eine Neuigkeit«, eröffnete ihnen Charlie. »Es erscheint ein neues Buch von Edmund Keller. Eine Geschichte der Blütezeit Roms, für das breitere Publikum geschrieben. Er hofft, dass es sich gut verkaufen wird.« An dem Projekt hatte Keller gearbeitet, seitdem er, nach drei glücklichen Jahren in Oxford, zurückgekehrt war.
»Famos«, sagte William. »Wir werden ein, zwei Exemplare davon kaufen.«
»Wäre es denkbar, dass du eine Gesellschaft für ihn ausrichtest?«, fragte Charlie seine Mutter. »Du weißt ja, wie sehr er dich schätzt.«
Rose erkannte ihre Chance.
»Wenn du mir versprichst, dass du dir ein wenig Bewegung verschaffst und an deiner Taille arbeitest. Und ich meine, ernsthaft versprichst!«
»Na gut. Das wär also dann abgemacht«, willigte ihr Sohn kleinlaut ein.
Nachdem Charlie gegangen war, küsste William seine Frau.
»Das war reizend von dir«, sagte er. »Und geschickt«, fügte er hinzu. »Charlie ist dir wirklich dankbar.«
»Na, dann bin ich ja froh«, sagte sie.
Jetzt schien der richtige Zeitpunkt gekommen. Alles, was während des Essens zur Sprache gekommen war, hatte sie in ihrem Entschluss nur noch mehr bestärkt.
»William, mein Lieber«, sagte sie sanft, »du müsstest mir einen Gefallen tun.«
»Alles, was du willst.«
»Ich möchte am Cottage in Newport ein paar Arbeiten durchführen lassen. Ich will es zu etwas wirklich Besonderem machen.«
»Hast du einen Ausstatter im Auge?«
»Ehrlich gesagt, mein Lieber, werde ich eher einen Architekten brauchen. Und etwas Geld. Kann ich etwas Geld haben?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Wie viel brauchst du?«
»Eine halbe Million Dollar.«
*
Anfang Oktober begann sich der Aktienindex, nachdem er fast einen Monat lang geschwächelt hatte, wieder zu erholen. Nicht mehr lang, sagten die Leute, und er würde wieder seinen letzten Höchststand erreichen. Am Donnerstag, den 17. Oktober, schmiss Mrs Master eine Party zur Feier des Erscheinens von Edmund Kellers Mighty Rome. Das Buch wurde überall sehr gelobt.
Rose hatte sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt und Gott und die Welt eingeladen: Leute, die Gesellschaften gaben, Leute, die gern spendeten, Leute, die Buchläden besaßen, Gönner der New York Public Library – der alte Elihu Pusey weilte leider nicht mehr unter den Lebenden – und eine ganze Horde von Journalisten, Zeitschriftenredakteuren und Verlagslektoren, die Charlie zusammengetrommelt hatte. Die Crème der Gesellschaft sowie der Geschäftswelt und der Literaturszene fand sich ein. Selbst Nicholas Murray Butler ließ sich sehen. Schließlich war ein solches Ereignis recht nützlich für die Universität. Keller wurde an einen Tisch gesetzt und dazu verdonnert, sein Buch zu signieren. Zweihundert Stück wurden sie auf diese Weise los, und weitere fünfzig kaufte Rose, um sie Freundinnen zu schenken, die die Werbetrommel für sie gerührt hatten.
Edmund Keller war von ihrer Güte überwältigt. Und er revanchierte sich standesgemäß. Denn der Glanzpunkt des Abends war seine bezaubernde Dankesrede. Seine jahrelange Dozententätigkeit hatte ihn zu einem virtuosen und sehr unterhaltsamen Mimen gemacht. Er brachte sie alle zum Lachen und schloss unter donnerndem Applaus; doch was Rose am allermeisten beglückte, waren die Worte, die er über die Familie Master sprach.
»Dieses Ereignis ist für mich eine besondere Freude und Ehre. Vor über sechzig Jahren
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