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Im Rausch der Freiheit

Im Rausch der Freiheit

Titel: Im Rausch der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ihm egal. Er war gerade Zeuge eines historischen Ereignisses geworden. Chrysler, dieser Fuchs, hatte der Höhe seines Gebäudes noch fast siebzig Meter draufgesetzt und damit seine völlig ahnungslosen Rivalen überrumpelt und geschlagen. Master hätte es nicht beschwören können, aber er war sich ziemlich sicher, dass das Chrysler Building gerade eben sogar den Eiffelturm überholt hatte.
    Was nur recht und billig wäre. New York war der Mittelpunkt der Welt. Der Aktienindex stieg unaufhaltsam in die Höhe. Die Wolkenkratzer taten dasselbe. Die Stadt verkörperte den Geist der Zeit.
    Mit großer Verspätung, doch ohne den leisesten Anflug von schlechtem Gewissen, winkte er ein Taxi heran und fuhr vergnügt zu seiner Firma.
    Als er auf die Eingangstür zuging, sah er ein kleines altes Kerlchen, das gerade das Gebäude verließ. Vielleicht in den Sechzigern, dem Aussehen nach Italiener. Er hatte seinen Mitarbeitern eingeschärft, solche Kleinanleger nicht zu verachten. »Vergessen Sie nicht«, sagte er immer wieder, »sie sind die Zukunft Amerikas.« Sobald er eingetreten war, fragte er also den Chefhändler, wer der Mann gewesen sei.
    »Ein Italiener, Sir. Hatte jahrelang bei uns ein Konto. Durchaus erstaunlich. Er arbeitet als Kellner in Little Italy, aber er hat ein wirklich beachtliches Guthaben.«
    »Wie viel ist er wert?«
    »Rund siebzigtausend Dollar. Unglücklicherweise hat er gerade sein gesamtes Aktienpaket verkauft. Wir haben ihn heute ausgezahlt.«
    »Hat alles verkauft?«
    »Ich habe versucht, ihn davon abzubringen, doch er kam am Montag wieder vorbei und sagte, er sei entschlossen, das Schicksal nicht zu versuchen.« Der Angestellte lächelte. »Meinte, der heilige Antonius habe ihm ein Zeichen geschickt.«
    »Wirklich? Na, ich glaube, da lag er falsch.« Er grinste. »Aber er wusste es wahrscheinlich nicht: Gott spricht nur zu den Morgans.«
    »Ja, Sir. Obwohl, Sir – während Sie außer Hauses waren, ist der Aktienkurs nicht unerheblich gefallen.«
    *
    Als Beginn des großen Börsencrashs von 1929 wird normalerweise der 24. Oktober, der sogenannte Schwarze Donnerstag, angegeben. Doch es begann tatsächlich schon am Mittwoch, dem Tag, an dem das Chrysler Building zum höchsten Gebäude der Erde wurde – da nämlich brach der Aktienindex abrupt um vier Komma sechs Prozentpunkte ein. Seltsamerweise bemerkten nur wenige den geschickten Trick, den Walter Chrysler sich geleistet hatte, doch den Markteinbruch am Mittwoch registrierten alle.
    Am Donnerstag ging William Master in die Börse, sobald sie ihre Tore öffnete. Die Atmosphäre war angespannt. Als er einen Blick auf die Besuchergalerie warf, sah er ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. »Das ist Winston Churchill, der britische Politiker«, sagte einer der Händler. »Hat sich einen verdammt schlechten Tag ausgesucht, um vorbeizuschauen.«
    Als der Handel begann, war Master fassungslos. Die Kurse fielen nicht, sie stürzten. Es herrschte kopflose Panik. Am Ende der ersten Stunde waren schon Schreie, dann regelrechtes Geheul zu vernehmen. Einzelne Händler, die Warnhinweise bekamen, wurden vom Parkett gefegt. Ein paarmal riefen Verkäufer Preise aus und konnten keinen einzigen Interessenten finden. Als es auf Mittag zuging, schätzte William, dass der Index bald um fast zehn Prozent gefallen sein würde. Das hysterische Geschrei auf dem Parkett wurde so laut, dass er es schließlich nicht mehr aushielt und die Börse verließ.
    Auf der Straße bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Auf den Stufen der Federal Hall hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Alle schienen unter Schock zu stehen. Er sah einen Burschen aus der Börse herauskommen und in Tränen ausbrechen. Ein alter Broker, den er kannte, bemerkte im Vorbeigehen kopfschüttelnd: »Seit dem Crash von 1907 habe ich nichts Derartiges mehr erlebt.«
    Aber 1907 war der alte Pierpont Morgan noch da gewesen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Ob vielleicht sein Sohn Jack etwas unternehmen konnte? Doch Jack Morgan befand sich auf der anderen Seite des Atlantik, in England, wo er für die Dauer der Jagdsaison weilte. Der vornehme Morgan-Partner Thomas Lamont führte derweil die Geschäfte.
    Wie aufs Stichwort stieg eine Gruppe von Männern die Außentreppe von Wall Street 23 hinauf, dem House of Morgan. Master erkannte auf Anhieb die Chefs der größten Banken. Würden sie es schaffen, den Kursverfall zu stoppen?
    Um halb zwei trat Richard Whitney, der Präsident der Stock Exchange,

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