Im Rausch der Freiheit
Dad innerlich jung geblieben ist«, beklagte Gorham sich seiner Mutter Julie gegenüber, »aber muss er unbedingt immer jünger werden?« Und während der letzten paar Jahre hatte der Lebensstil seines Vaters Anlass zu gewissen Spannungen zwischen den beiden gegeben. Nicht dass Gorham über seinen Vater schockiert gewesen wäre – er fand lediglich, dass Charlie, obwohl über sechzig Jahre alt, sich allmählich in einen alternden Halbwüchsigen verwandelte.
Und doch war Charlie, halbwüchsig oder nicht, in den letzten Jahren sehr erfolgreich gewesen. Nachdem er jahrelang versucht hatte, Stücke für die Bühne zu schreiben, entdeckte er seine Liebe fürs Fernsehen, verdiente sich einiges zusätzliches Geld als Komödienautor und veröffentlichte, ohne Gorham vorher etwas davon zu sagen, dann auch noch seinen Roman.
Die Fähre war inzwischen weit draußen in der Bucht. Gorham blickte zurück, starrte auf die gigantische Spanne der Verrazano Bridge und schüttelte belustigt den Kopf. Es amüsierte ihn, dass er Zeit seines Lebens, wann immer er dieses gewaltige Wahrzeichen New Yorks sah, gezwungen sein würde, an seinen Vater zu denken – ob er das nun wollte oder nicht. Verrazano Narrows hieß Charlies Roman.
Der Titel war eine gute Wahl. Nicht viele wussten, dass der erste Europäer, der 1524 die Bucht von New York erreichte, der Italiener Giovanni di Verrazano gewesen war. Henry Hudson kannte jeder, obwohl er erst über achtzig Jahre später dort, ankam aber Verrazano geriet in Vergessenheit; und jahrelang machten sich die Wortführer der italienischen Gemeinde dafür stark, dass dem großen Seefahrer die ihm gebührende Anerkennung zuteil wurde. Als endlich der enge Eingang zur Bucht von New York durch eine gewaltige Brücke überspannt wurde, wollten die Italiener, dass sie nach ihm benannt würde. Robert Moses votierte gegen diese Namensgebung, aber die Italiener bearbeiteten Gouverneur Nelson Rockefeller und bekamen schließlich ihren Willen. Und es war durchaus passend, dass die lange Hängebrücke, die Staten Island mit Brooklyn verband, einen italienischen Namen erhielt. Denn sie war eine der elegantesten Brücken, die je gebaut worden waren.
Verrazano Narrows von Charles Master erschien 1964 im selben Monat, in dem die Brücke für den Verkehr freigegeben wurde. Es war zwar ein Roman, las sich aber fast wie ein Gedicht. Viele verglichen ihn mit einem bedeutenden Werk aus den Vierzigerjahren, mit Elizabeth Smarts langem Prosagedicht By Grand Central Station I Sat Down and Wept. Masters Verrazano Narrows war eine Liebesgeschichte um einen Mann, der zusammen mit seinem Sohn auf Staten Island wohnt und eine leidenschaftliche Affäre mit einer Frau in Brooklyn hat. Das »Narrows« im Titel spielte – über seine wörtliche Bedeutung »Meerenge« hinaus – auf die engstirnigen Vorurteile an, die das Paar überwinden musste. Gorham vermutete, dass die Geschichte einiges autobiografische Material enthielt, doch falls dem so war, hatte sein Vater weder ihm noch sonst wem je irgendwelche Hinweise auf die Identität der Frau gegeben. Wie auch immer – das Buch wurde ein riesiger literarischer Erfolg. Obendrein war es auch noch verfilmt worden. Charlie unternahm eine Lesereise durch das ganze Land, freundete sich mit irgendwelchen Leuten drüben in San Francisco an, blieb eine Zeitlang an der Westküste hängen und lernte Gras zu rauchen.
Nachdem die Fähre angelegt hatte, stieg Gorham in die U-Bahn um. Es waren nicht viele Menschen unterwegs. Am anderen Ende seines Waggons standen zwei Schwarze, die zu ihm herübersahen. Er fluchte innerlich. Wahrscheinlich waren sie harmlos, aber heutzutage, dachte er, musste man vorsichtig sein. Wenn man in der Stadt lebte, entwickelte man Antennen, die bei drohendem Ärger Warnsignale aussandten. Wie es der Zufall so wollte, trug er heute ziemlich viel Bargeld bei sich. Er hätte wirklich nicht einfach so in einen praktisch menschenleeren U-Bahn-Wagen steigen sollen!
War es vernünftig, zwei Typen lediglich deswegen zu verdächtigen, weil sie schwarz waren? War das richtig für jemanden, der ganze Passagen aus den Reden Martin Luther Kings auswendig wusste? Nein, ganz und gar nicht. Und doch war es so. Die zwei Schwarzen setzten ihre leise Unterhaltung fort und beachteten ihn mehrere Stationen lang nicht weiter. Dann stiegen einige Leute ein und die zwei Männer aus.
Gorham verließ die U-Bahn an der Lexington Avenue, stieg nach oben. Bis zur Park hatte er nur einen Block
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