Im Rausch der Freiheit
Stunde«, sagte die Frau, die verlegen und befangen wirkte, mit unverkennbarem britischem Akzent.
»Nun«, sagte der Mann, »willst du deinen Onkel Herman nicht hereinbitten?«
*
Sie standen in der Küche herum. Unten spielte ihr Vater, ohne etwas von dem Besuch zu ahnen, weiter Klavier.
»Ich habe dir ja gesagt, dass er gut spielt«, sagte Onkel Herman zu seiner Frau.
»Du durftest nicht einfach so kommen«, sagte Sarahs Mutter. »Du hättest schreiben sollen. Wenigstens vorher anrufen.«
»Das habe ich ihm auch gesagt …«, sagte Onkel Hermans Frau, aber niemand schenkte ihr die geringste Beachtung.
»Damit man mir sagt, ich soll mich nicht blicken lassen?«, sagte Onkel Herman. »Jetzt bin ich eben da.« Er sah Michael an. »An dich erinnere ich mich.« Er sah Nathan an. »Dich kenne ich nicht. Ich bin dein Onkel Herman.«
Esther Adler warf einen Blick auf Hermans Frau und wandte sich wieder an ihren Schwager.
»Ich will nicht sagen, was passiert ist.«
»Sie weiß es«, dröhnte er. »Sie weiß es.« Er wandte sich zu seiner Frau. »Ich habe es dir erzählt. Als ich dich geheiratet habe, haben sie für mich Schiwa gesessen, weil du keine Jüdin bist. Ich bin für sie tot. Verstehst du? Sie behandelten mich wie einen Toten. Luden alle ihre Freunde ein, mit ihnen um mich zu trauern, und dann haben sie nie wieder von mir gesprochen. So hält man es in Familien wie unserer. Wir sind da sehr eigen.«
»Das höre ich zum ersten Mal«, versicherte seine Frau. »Ich hatte davon keine Ahnung!«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Onkel Herman. »Nur ich bin tot. Du nicht.«
»Du musst gehen, Herman«, sagte Mrs Adler. »Ich werde ihm sagen, dass du hier warst. Vielleicht wird er dich empfangen. Ich weiß es nicht.«
»Das ist doch blödsinnig!«, sagte Onkel Herman.
Sarah sagte nichts. Sie schlüpfte hinaus.
Ihr Vater hörte sie nicht einmal kommen, doch als er sie zu ihm ins Zimmer treten sah, wo er am Klavier saß, lächelte er. Er hatte einen durch und durch zufriedenen Ausdruck im Gesicht, und als sie ihn ansah, spürte sie eine tiefe Liebe. Sie trat an seine Seite.
»Vater«, sagte sie sanft, »es ist etwas passiert. Ich muss dir etwas sagen.«
Er hielt im Spielen inne.
»Was denn, Sarah?«
»Du musst dich auf einen Schock gefasst machen.«
Er nahm die Hände von der Tastatur und drehte sich halb herum. Sein Gesicht bekam mit einem Mal einen ganz ängstlichen Ausduck.
»Schon gut. Niemand ist verletzt. Niemand ist krank.« Sie atmete tief durch. »Onkel Herman ist da. Mit seiner Frau.« Sie lächelte. »Er sieht genauso aus wie in meiner Erinnerung. Mutter will sie wieder wegschicken. Willst du das?«
Einen langen Augenblick lang sagte ihr Vater nichts.
»Herman ist hier?«
»Ja. Er stand auf einmal da. Vor der Haustür.«
»Mit dieser Frau, die er geheiratet hat? Er kommt ohne Vorwarnung, und er bringt diese Frau in mein Haus?«
»Er möchte dich sprechen. Ich glaube, er möchte sich aussöhnen. Vielleicht wird er um Verzeihung bitten.« Sie zögerte. »Es ist viel Zeit vergangen«, fügte sie sanft hinzu.
»Viel Zeit. Ich begehe ein Unrecht. Ich warte ein paar Jahre ab. Macht das das Unrecht ungeschehen? Wird es dadurch Recht?«
»Nein, Vater. Aber vielleicht, wenn du mit ihm reden würdest …«
Ihr Vater hatte sich jetzt vornübergebeugt und starrte auf die Elfenbeintasten. Er schüttelte den Kopf. Dann wiegte er seinen Oberkörper vor und zurück.
»Ich kann ihn nicht sehen«, sagte er leise.
»Vielleicht, wenn …«
»Du verstehst nicht. Ich kann ihn nicht sehen! Ich kann es nicht ertragen …«
Und plötzlich begriff Sarah. Ihr Vater war nicht wütend. Er litt entsetzlich.
»So fängt es immer an«, sagte er. »Es ist immer das Gleiche. In Deutschland glaubten die Juden, sie seien Deutsche, und sie vermischten sich mit ihnen. Dann aber reichte es, wenn man eine jüdische Großmutter oder Urgroßmutter hatte …, und sie brachten einen um. Du glaubst, die Juden werden irgendwann einmal akzeptiert werden? Das ist eine Illusion!«
»Das war Hitler …«
»Und davor waren es die Polen, die Russen, die Inquisition … Viele Staaten haben die Juden akzeptiert, Sarah, und immer wandten sie sich am Ende gegen sie. Die Juden werden nur überleben, wenn sie stark sind. Das ist die Lektion, die wir aus der Geschichte lernen können.« Er schaute zu ihr auf. »Uns wurde einst befohlen, an unserem Glauben festzuhalten, Sarah. Ich will dir also eines sagen: Jedes Mal, wenn ein Jude
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