Im Rausch der Freiheit
Zweihundertmal? Dreihundertmal? Er wusste es nicht. Aber eines war sicher: Jedes Mal, wenn er auf dieser Fähre gestanden und auf die näher kommende Skyline von Manhattan gestarrt hatte, schwor er sich stets, dass er eines Tages dort leben würde.
Natürlich hatte sich die Stadt seit seiner Kindheit ziemlich stark verändert. Die Uferanlagen etwa waren kaum wiederzuerkennen. Als er ein kleiner Junge war, hatten die Docks von Südmanhattan noch von Schauerleuten gewimmelt, die Frachtschiffe löschten. Etliche dieser Männer waren sogar Facharbeiter gewesen. Dann aber verdrängten die großen Containerschiffe die alten Frachter mehr und mehr. Die neuen Löschplätze mit ihren riesigen Hebevorrichtungen befanden sich jetzt in den Häfen von Newark und Elizabeth, drüben in New Jersey. Die Passagierschiffe legten nach wie vor an den Hudsonpiers der West Side an, aber so eindrucksvoll der Anblick der großen Dampfer auch sein mochte – die Wasserfront war nur noch ein schwacher Abglanz dessen, was sie einmal gewesen war.
Die Stadt, so Gorhams Eindruck, wurde zunehmend aufgeräumt und zurechtgestutzt. Robert Moses hatte fortgefahren, für die Autos und die riesigen Laster, die mittlerweile die Straßen von Midtown belieferten – und häufig verstopften –, Highways kreuz und quer über die Insel zu ziehen. Moses wollte gleichzeitig die Slums beseitigen, und an deren Stelle entstanden jetzt, ob zum Vor- oder Nachteil der Menschen sei dahingestellt, überall entlang des East River Hochhäuser. »Stadterneuerung« wurde das genannt. Die Unmengen von kleinen Handwerksbetrieben und Fabriken, die es bis dahin in den ärmeren Vierteln, insbesondere in Brooklyn und in den Küstenbereichen von Manhattan, gegeben hatte – diese schmutzigen, bescheidenen Produktionsstätten des Reichtums der Stadt –, sie verschwanden allmählich.
Doch auch wenn Manhattan seinen Charakter veränderte, wenn Dienstleistungen mehr und mehr die Warenproduktion verdrängten, wenn Ellis Island schon lange geschlossen war und die Fluten von Einwanderern durch andere, weniger auffällige Kanäle ins Land geleitet wurden, beherbergte die große Stadt New York in ihren fünf Boroughs nach wie vor vitale Gemeinden mit Menschen aus allen Ecken und Enden der Welt.
Manche seiner Freunde in Harvard fanden es verrückt von ihm, in New York leben zu wollen. Denn die Stadt verzeichnete seit einigen Jahren gewaltige Probleme. Der Haushalt befand sich in einer Dauerkrise, die Steuern waren gestiegen. Es herrschten Spannungen zwischen der weißen und der schwazren Bevölkerung; die Verbrechensrate schoss in die Höhe: Mittlerweile wurden in der Stadt fast drei Morde pro Tag verübt. Von den größeren Unternehmen, die es nach der Jahrhundertwende nach New York gezogen hatte, verlegten immer mehr ihre Geschäftsstellen in andere Städte. Doch Gorham Master betrachtete New York nach wie vor als Nabel der Welt. Sobald er sein Examen absolviert hatte, würde er sich in Manhattan niederlassen. Mochte ihm jemand auch einen Wahnsinnsjob mit einem fetten Gehalt in einer anderen Stadt anbieten, er würde ihn für jeden annehmbaren Posten in New York ausschlagen. Das Einzige, womit er nicht gerechnet hatte, war, dass sein Vater dann nicht mehr da sein würde.
Eines musste man zugeben: So viele Fehler Charlie Master auch haben mochte – langweilen tat man sich mit ihm nie. Während der letzten zwei Jahrzehnte hatte sich die Welt um sie herum rasend schnell verändert. Die Gewissheiten der Fünfzigerjahre waren infrage gestellt, Schranken niedergerissen worden, neue Freiheiten zogen herauf, und mit ihnen neue Gefahren.
Seltsamerweise, erkannte Gorham, erfuhr er von diesen Veränderungen größtenteils nicht etwa durch seine Altersgenossen, sondern durch seinen Vater. Während seiner Highschoolzeit war es Charlie gewesen, der an den Bürgerrechtsdemonstrationen teilnahm und der ihm Bandaufzeichnungen von den Reden Martin Luther Kings vorspielte. Sie glaubten beide nicht an die Berechtigung des Vietnamkriegs, aber während Gorham lediglich hoffte, die Einberufungen würden enden, bevor er in Harvard das Studium abgeschlossen hätte, machte sich sein Vater mit Zeitungsartikeln gegen den Krieg Feinde.
Seine politischen Ansichten billigte Gorham, seinen Lebenswandel allerdings weniger.
Sein Vater kannte nicht nur sämtliche Bands in der Stadt, er schilderte ihm auch seine psychedelischen Erfahrungen, die er beim Marihuanarauchen erlebte. »Ich habe ja nichts dagegen, dass
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