Im Rausch der Freiheit
zu laufen. Er wechselte vom Trottoir auf die Fahrbahn.
Die Bürgersteige waren bedeckt mit Haufen von schwarzen Müllsäcken. Müll, so weit das Auge reichte.
Zwei Jahre zuvor hatten die Verkehrsbetriebe gestreikt. Sie konnten die Stadt damit zwar nicht lahmlegen, denn die New Yorker gingen einfach zu Fuß zur Arbeit. Aber dem Ruf der Stadt war es nicht gerade zuträglich gewesen. Der Bürgermeister, John Lindsay, mochte ein anständiger und ehrlicher Mann sein, doch ob es ihm gelingen würde, die turbulente Stadt und ihre finanziellen Probleme in den Griff zu bekommen, musste sich erst zeigen. Jetzt also streikte die Müllabfuhr. Man konnte von Glück reden, dass es Februar war. Wie es im August gestunken hätte, durfte man sich gar nicht vorstellen.
Charlie Master lag im Sterben, während sich auf den Straßen der Müll häufte. Irgendwie kam es Gorham so vor, als ob die Stadt seinen Vater, der New York so sehr liebte, verhöhnen würde.
Doch als er die Wohnung an der Park Avenue erreichte, fand er seinen Vater in einer weit besseren seelischen Verfassung vor, als erwartet.
Nachdem Rose, Anfang des Jahrzehnts, gestorben war, hatte Charlie ihre Wohnung übernommen. Eine Zeitlang behielt er zusätzlich sein altes Apartment an der 78th als Galerie für seine Gemälde. Dann gab er es auf und benutzte seitdem das zweite Schlafzimmer an der Park als provisorischen Speicher. Er hatte davon gesprochen, dieses Jahr ein kleines Studio in Downtown zu mieten, aber Gorham vermutete, dass es dazu nicht mehr kommen würde.
Mabel, die Haushälterin seiner Großmutter, umsorgte jetzt Charlie, und ein paarmal pro Tag kam eine Krankenschwester vorbei. Wenn irgend möglich, wollte Charlie bis ganz zum Schluss zu Hause bleiben.
Als Gorham ins Wohnzimmer trat, fand er seinen Vater angezogen in einem Sessel vor. Er war mager und blass, doch er lächelte vergnügt.
»Es ist schön, dich zu sehen, Gorham. Wie bist du hergekommen?«
»Mit dem Zug.«
»Du bist nicht geflogen? Heutzutage scheint jeder zu fliegen. Die Flughäfen machen ausgezeichnete Geschäfte.« Das stimmte. Alle drei Flughäfen – Newark, JFK und La Guardia – verzeichneten von Jahr zu Jahr höhere Passagierzahlen. Die Stadt war zu einem nationalen und internationalen Knotenpunkt geworden. »Da fragt man sich, wo die alle hinwollen.«
»Vielleicht fliege ich das nächste Mal.«
»Das solltest du machen. Bist du nur übers Wochenende hier?«
Gorham nickte. Dann überrollte ihn plötzlich eine Welle von Schuldgefühlen. Was dachte er sich eigentlich? Das war sein Vater, und der würde bald tot sein.
»Ich könnte auch länger bleiben …«
Charlie schüttelte den Kopf. »Mir wäre lieber, du studierst. Wenn ich dich brauchen sollte, melde ich mich.« Er lächelte wieder. »Ich bin wirklich froh, dich zu sehen!«
»Brauchst du irgendetwas?«
»Du hast nicht zufällig Gras dabei?«
Gorham stand kurz davor, gereizt zu reagieren, aber er verkniff es sich. Stattdessen seufzte er lediglich. »Tut mir leid, Dad. Hab ich nicht.«
Das war eine der Ursachen für ihre Spannungen. Gorham hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben Marihuana geraucht. Das war am Wochenende nach seinem Highschoolabschluss gewesen, 1966. Er erinnerte sich an sein Zögern, daran, wie ihm seine Freunde erzählt hatten, Bob Dylan habe die Beatles 1964 mit Gras bekannt gemacht, direkt hier in New York, und damals habe ihre kreativste Zeit angefangen.
Doch Gorham beließ es bei einem Versuch. Vielleicht gewannen sein Konservativismus und seine Vorsicht die Oberhand. Er hatte Freunde, die gerade LSD ausprobierten, was schreckliche Wirkungen zeitigt, und er machte zudem keinen richtigen Unterschied zwischen weichen und harten Drogen. Aus welchen Gründen auch immer verkehrte er hauptsächlich mit Leuten, die keinerlei Dogen nahmen, und es war ihm peinlich, dass sein Vater kiffte.
»Draußen ist ein einziger Schweinestall. Müllsäcke überall.«
»Ich weiß.«
»Aber nichts kann an unserer Liebe zur Stadt etwas ändern.«
»Genau.«
»Du hast vermutlich immer noch vor, hier in der City ins Bankgeschäft einzusteigen?«
»Familientradition. Wenn man von dir absieht, heißt das.« Hatte sich möglicherweise ein milder Vorwurf in seine Stimme eingeschlichen? Falls ja, zog sein Vater es vor, ihn zu ignorieren.
»Erinnerst du dich, dass deine Großmutter dir, als du ein Junge warst, einen Morgan-Silberdollar schenkte? Das hat nichts mit der Morgan-Bank zu tun, weißt du. Das ist der Name des
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