Im Rausch der Freiheit
außerhalb der Gemeinschaft heiratet, werden wir geschwächt. Heirate außerhalb der Gemeinschaft, und in zwei, drei Generationen ist deine Familie nicht mehr jüdisch. Vielleicht lebt sie in Sicherheit, vielleicht auch nicht. Aber so oder so wird am Ende alles, was wir besitzen, verloren sein.«
»Glaubst du das?«
»Das weiß ich.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe für meinen Bruder Schiwa gesessen. Er ist für mich gestorben. Geh rauf und sag ihm das.«
Sarah zögerte erst, wandte sich dann zur Treppe. Doch noch bevor sie Onkel Herman sah, schallte seine dröhnende Stimme von oben herunter.
»Daniel, ich bin hier! Willst du nicht mit deinem Bruder reden?«
Sarah warf ihrem Vater einen Blick zu. Er starrte nach wie vor auf die Tastatur. Wieder war Onkel Hermans Stimme zu vernehmen.
»Es ist inzwischen viel Zeit verstrichen, Daniel.« Eine Pause. »Ich werde nicht wiederkommen.« Eine weitere Pause, dann ein wütender Schrei: »Es ist also aus, wenn’s das ist, was du willst!«
Einen Augenblick später knallte die Haustür ins Schloss. Danach war Stille.
Sarah setzte sich auf die Treppe. Sie wollte sich ihrem Vater nicht aufdrängen, doch sie wollte ihn auch nicht allein lassen. Sie wartete eine kleine Weile. Dann sah sie seine Schultern zucken, und obwohl nichts zu hören war, begriff sie, dass er weinte.
Sie konnte nicht anders, sie musste zu ihm. Sie stieg die Treppe wieder hinunter, ging ans Klavier, legte die Arme um ihren Vater und hielt ihn fest.
»Glaubst du, ich liebe meinen Bruder nicht?«, brachte er endlich mühsam heraus.
»Ich weiß, dass du ihn liebst.«
Er nickte langsam. »Ich liebe meinen Bruder. Was sollte ich tun? Was kann ich tun?«
»Ich weiß es nicht, Vater.«
Er schaute zu ihr auf. Die Tränen strömten ihm die Wangen hinunter und in den Schnurrbart.
»Versprich mir eins, Sarah, versprich mir, dass du niemals tun wirst, was Herman getan hat!«
»Du willst, dass ich’s dir verspreche?«
»Ich könnte es nicht ertragen.«
Sie zögerte nur einen Moment lang. »Ich verspreche es.«
VATER UND SOHN
1968
Alle waren sich darin einig, dass Gorham Master es weit bringen würde.
Er war selbstsicher. Er wusste genau, was er wollte, er hatte sich alles genau zurechtgelegt, und er würde nie ein Nein als Antwort akzeptieren.
In Groton war er ein glänzender Schüler gewesen, und jetzt weilte er schon das zweite Jahr in Harvard. Seine Universitätsstudien waren ihm wichtig, aber ebenso wichtig war ihm Baseball, und er hatte bereits bewiesen, dass er den Instinkt eines geborenen Outfielders besaß, der schon in dem Augenblick auf den Ball reagierte, da er vom Schläger getroffen wurde. Die Frauen mochten Gorham, und die Männer bewunderten ihn. Aristokraten gefiel er, weil er selbst einer war; und alle anderen hegten Sympathie für ihn, weil er als freundlich, höflich und als guter Sportsmann galt. Arbeitgeber würden ihn in ein paar Jahren mit Kusshand einstellen, weil er intelligent und arbeitsam und anpassungsfähig war.
Seine engsten Freunde hätten darüber hinaus noch zweierlei über ihn sagen können: dass er erstens, obgleich alles andere als feige, entschieden zum Konservativismus und zur Vorsicht tendierte. Dass er zweitens, aus eben diesen Neigungen heraus, fest entschlossen war, seinem Vater so wenig wie nur möglich zu ähneln.
Aber gerade wegen seines Vaters kehrte er an diesem frostigen Februarwochenende von Harvard nach New York zurück.
*
Die Botschaft, die er am Mittwoch von seiner Mutter erhalten hatte, war unmissverständlich gewesen. Komm so bald wie irgend möglich. Und als er am Samstag bei ihr in Staten Island eintraf, ließ Julie ihn nicht im Unklaren.
»Du weißt ja, dass ich deinen Vater seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen hatte, bevor er mich neulich Abend anrief. Er sagte, er wollte sich von mir verabschieden. Also bin ich zu ihm gefahren, und ich bin froh darüber.«
»Steht es wirklich so schlimm?«
»Ja. Der Arzt sagte ihm zweifelsfrei, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Deshalb musstest du auch unverzüglich kommen.«
»Ich kann es noch nicht richtig fassen.«
»Nun, du hast ja bis morgen früh Zeit. Und, Gorham«, fügte sie hinzu, »sei nett!«
»Bin ich immer.«
Sie bedachte ihn mit einem Blick. »Fang einfach keinen Streit an.«
*
Als die Fähre am Sonntagmorgen in die weite Bucht hinausfuhr, wehte ein kalter Ostwind. Wie oft, fragte sich Gorham, mochte er als Kind zusammen mit seinem Vater diese Fähre genommen haben?
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