Im Rausch der Freiheit
Leben zufrieden. Sie war in der City geboren, aber als sie acht war, zogen ihre Eltern in einen Vorort. Ihr Vater Patrick, bei dem sie manchmal den Verdacht hegte, dass er sich mehr für Baseball als für seine Tätigkeit als Versicherungsmakler interessierte, pflegte gern zu sagen, seit die Giants sich nach San Francisco und die Dodgers nach Los Angeles abgesetzt hätten, wüsste er keinen verdammten Grund, warum er noch in der Stadt bleiben sollte. Doch die Wahrheit war, dass ihre Eltern lediglich zu den Hunderttausenden Familien der weißen Mittelschicht gehörten, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die zunehmend gefährlicheren Straßen von Manhattan gegen die ruhigen Vorstädte eintauschten.
Dass ihr Bruder 1969 wieder in die Stadt gezogen war, hatte ihre Eltern beunruhigt. Noch größere Sorgen machten sie sich, als sie selbst bei Branch & Cabell zu arbeiten anfing. Sie bestanden darauf, sich ihre Wohnung anzusehen, bevor sie den Mietvertrag unterzeichnete, und als sie ihnen sagte, sie habe vor, regelmäßig um das Reservoir zu joggen, das nur Minuten von ihrer Haustür entfernt lag, musste sie ihnen versprechen, das nie allein oder nach Einbruch der Dunkelheit zu tun.
»Ich werde nur joggen, wenn es alle anderen auch tun«, sagte sie ihnen. Und tatsächlich waren in den Sommermonaten, wenn sie um sieben Uhr früh loslief, immer schon Dutzende von Leuten am See, die das Gleiche taten. »Auch Jackie Onassis joggt um das Reservoir«, erklärte sie ihrer Mutter.
Diesen Sommer war eine wirkliche Bedrohung aufgetaucht, wegen der sie sich sorgen konnten.
»Ich wünschte bloß, die Polizei würde endlich diesen entsetzlichen Menschen fassen!«, sagte ihre Mutter jedesmal, wenn sie mit ihr telefonierte. Maggie konnte es ihr nicht verübeln. Der »Son of Sam«, wie er sich nannte, hatte in den letzten Monaten viele in Angst und Schrecken versetzt, junge Frauen erschossen und der Polizei und einem Journalisten seltsame Briefe geschickt, in denen er erklärte, dass er wieder zuschlagen werde. Bislang hatte er seine Delikte in Queens und in der Bronx verübt, aber ihre Mutter an diese Tatsache zu erinnern erwies sich als sinnlos. »Woher weißt du, dass er nicht als Nächstes in Manhattan zuschlagen wird?«, erwiderte sie
Den ganzen Tag über war es unerträglich heiß und stickig gewesen. Sie zog einen leichten Baumwollrock und eine Bluse an und freute sich schon auf einen großen kühlen Drink.
*
Juan Campos stand auf dem Bürgersteig und schaute hinüber zu den guten Wohngegenden. Auch ihm machte das heiße und schwüle Wetter zu schaffen, und jetzt spürte er eine starke elektrische Spannung in der Luft. Er rechnete jeden Augenblick damit, den ersten Donner zu hören.
Er blickte in Richtung Central Park. Seine Freundin Janet wohnte in der West Side, auf der 88th nicht weit von der Amsterdam Avenue. Sie durchquerte gerade den Park, um sich mit ihm zu treffen.
Ein Rettungswagen bog mit heulender Sirene und plärrender Hupe von der Third Avenue um die Ecke und raste an der Nordseite der Straße weiter in Richtung Madison. Auf der East 96th fuhren dauernd lärmende Rettungswagen, weil das Krankenhaus ganz in der Nähe lag.
Juan stand an der Kreuzung von 96th und Park. Die Wohnung, in die er kürzlich eingezogen war, lag hinter der Lexington Avenue, auf der Nordseite. Er hatte einen Untermietvertrag auf ein Jahr, und er hatte keine Ahnung, ob er da länger bleiben würde. Nichts war in seinem Leben bislang sicher gewesen. Eine Konstante gab es aber immerhin: Er wohnte noch immer auf der Nordseite der Linie, die Arm und Reich trennte.
Seine Straße. Es war natürlich eine Querstraße, wie 86th und 72nd, 57th, 42nd, 34th und 23rd. Der Verkehr bewegte sich in beiden Richtungen. Wenn auch jede dieser großen Straßen ihren spezifischen Charakter hatte, war die 96th im Jahr 1977 etwas ganz Besonderes. Unterhalb der 96th Street lagen Upper East und Upper West Side. Oberhalb von ihr war Harlem, wohin sich Leute wie sein Freund Gorham nie verirrten. Doch wenn die meisten Auswärtigen annahmen, Harlem sei heutzutage ein rein schwarzer Stadtteil, so irrten sie sich gewaltig. In Harlem gab es zahlreiche andere Gemeinden, und die mit Abstand größte von ihnen war im südlichen Teil angesiedelt, oberhalb der 96th und östlich der Fifth.
El Barrio, Spanish Harlem. Die Heimat der Puerto-Ricaner.
Juan Campos war Puerto-Ricaner, und er lebte seit seiner Geburt in El Barrio. Als er sieben war, war sein Vater gestorben,
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