Im Rausch der Freiheit
Familie einst in der Stadt besessen hatte, wiederherzustellen, dass er sein bescheidenes Vermögen nur als die Voraussetzung für den ersten Schritt betrachtete. Und der bestand darin, einen Job in einer großen Bank zu bekommen. Dann würde er alles Erforderliche unternehmen, um ganz nach oben zu kommen. Sein Vater mochte kein Erfolgsmensch im landläufigen Sinne gewesen sein, aber Gorham würde einer werden. Das war seine Mission.
Aber er vermisste Charlie – sogar noch mehr, als er erwartet hatte.
Charlie war zu früh gestorben; schon sein Todesjahr schien dies zu bestätigen. Trotz seiner vielen Tragödien war 1968 ein außergewöhnliches Jahr gewesen. Da hatte es das Scheitern der Tet-Offensive und die riesigen New Yorker Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg gegeben. Der April hatte die Ermordung Martin Luther Kings und Juni die von Robert Kennedy gebracht. Die denkwürdigen Wahlkämpfe Nixons, Hubert Humphreys und Wallacé um das Präsidentenamt. In Europa hatten die Pariser Studentenunruhen und die Zerschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion den Gang der abendländischen Geschichte verändert. Andy Warhol war angeschossen worden, Jackie Kennedy hatte Aristoteles Onassis geheiratet. So viele einschneidende Ereignisse hatten sich in diesem einen Jahr zugetragen, und Charlie Master hatte nicht die Möglichkeit gehabt, sie mitzuerleben und zu kommentieren. Das erschien irgendwie unnatürlich, falsch.
Dennoch war Gorham in gewisser Hinsicht fast froh, dass sein Vater die letzten Jahre nicht mehr miterlebt hatte. Der deprimierende Müllwerkerstreik von Frühjahr ’68 war nicht etwa der Höhepunkt, sondern erst der Anfang der Probleme New Yorks gewesen. Jahr für Jahr war es mit der großen Stadt, die sein Vater so geliebt hatte, weiter bergabgegangen. Man hatte gewaltige Anstrengungen unternommen, um New York der Welt als aufregende Stadt zu verkaufen. Die Werbefachleute hatten eine wenig bekannte, antiquierte Slang-Bezeichnung für eine Großstadt aufgegriffen und New York »The Big Apple« getauft und mit einem extra entworfenen Logo versehen. Im Central Park fanden dauernd Konzerte oder Theateraufführungen statt. Doch hinter dem ganzen Rummel fiel die Stadt mehr und mehr auseinander. Der Park verwandelte sich allmählich in eine staubige Wüste, in der man sich nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht herumtrieb. Die Straßenkriminalität nahm kontinuierlich zu. Und um die armen Viertel wie Harlem und die Süd-Bronx schien sich überhaupt niemand mehr zu kümmern.
Schließlich, 1975, hatte der Big Apple seine Zahlungsunfähigkeit eingestanden. Offenbar waren die Bilanzen jahrelang gefälscht worden. Die Stadt hatte Kredite aufgenommen und als Sicherheit Steuereinnahmen angegeben, die sie gar nicht hatte. Niemand war bereit, New Yorker Schulden zu kaufen, und Präsident Gerald Ford weigerte sich, der Stadt aus der Patsche zu helfen, solange sie nicht selbst Anstrengungen zu Verbesserung ihrer Situation unternehmen. »FORD AN DIE STADT: VER-RECK!«, hatte die Daily News einprägsam getitelt. Nothilfen des Bundes hatten den tatsächlichen Zusammenbruch verhindert, aber der Big Apple befand sich finanziell weiterhin in einer Dauerkrise.
Charlie hätte es das Herz zerrissen, New York so gedemütigt zu sehen. Dennoch wünschte sich Gorham, er könnte ab und an mit seinem Vater reden. Sie mochten oft unterschiedlicher Meinung gewesen sein, aber Charlie war immer gut informiert gewesen und konnte zu den meisten Vorgängen eine eigene Meinung äußern. Seit seinem Tod musste Gorham zusehen, wie er aus eigener Kraft aus der Welt schlau wurde, und wenn er allein zu Haus saß, fühlte er sich manchmal richtig traurig.
Natürlich hatte er alle Verpflichtungen gegenüber seinem Vater erfüllt und den Freunden die kleinen Geschenke überbracht und dafür deren Worte der Liebe und des Lobes für Charlie gehört. Das war eine angenehme Aufgabe gewesen. Das heißt, mit einer Ausnahme allerdings. Sarah Adler hielt sich zu dem Zeitpunkt außer Landes auf, in Europa. Bei dem Geschenk handelte es sich um eine Zeichnung, doch weil sie verpackt war, wusste Gorham nicht, was es genau war. Er hatte sich schon mehrmals vorgenommen, es ihr zu bringen, aber irgendwie kam immer etwas anderes dazwischen, und nach einem Jahr war es ihm ein bisschen peinlich, dass er so viel Zeit hatte verstreichen lassen. Das Geschenk lag noch immer eingepackt in einem Wandschrank. Eines Tages, gelobte er sich, würde er es ihr endlich
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