Im Rausch der Freiheit
war sie gestorben. Er wusste, dass sie sich den Tod gewünscht hatte; sie litt dauernd unter Schmerzen und war sehr matt – und sie wollte, dass er frei war.
Bis seine Mutter krank wurde, hatte Juan seiner Umgebung nie allzu viel Aufmerksamkeit gewidmet. Er wusste, dass ihre Wohnung einen frischen Anstrich brauchte und dass das Licht im Treppenhaus nicht funktionierte und dass der Hausbesitzer bloß erklärte, er werde die Sachen in Ordnung bringen, nur um dann doch nichts zu tun. Aber seine Mutter hatte immer darauf beharrt, der Haushalt sei ihre Angelegenheit und er solle sich lieber auf sein Studium konzentrieren. Manchmal hatte er davon geträumt, eines Tages ein schönes Haus zu besitzen, zu heiraten und eine große Familie zu gründen und sich um seine Mutter zu kümmern.
Als Maria dann schwächer wurde und er die Verantwortung übernehmen musste, war sein Leben härter geworden. Er musste die Miete zahlen und Lebensmittel einkaufen. In manchen Wochen reichte das Geld nicht, und bei mehr als einer Gelegenheit sah Juan sich gezwungen, den Besitzer eines Eckladens zu bitten, ihm Lebensmittel auf Kredit zu geben. Der Mann kannte Maria gut, und er war freundlich. Als Juan eines Nachmittags mit ein paar Dollar ankam, die er ihm schuldete, sagte der Mann bloß: »Ist schon okay, Junge. Gib’s mir wieder, wenn du reich bist.«
Schwieriger gestalteten sich da die Verhandlungen mit dem Vermieter. Mr Bonati war ein kleiner, glatzköpfiger Mann mittleren Alters, dem das Haus schon seit vielen Jahren gehörte und der die Mieten persönlich einsammelte. Wenn Juan um Aufschub bitten musste, hatte er Verständnis. »Ich kenne deine Mutter inzwischen sehr lange«, sagte er. »Sie macht mir keine Schwierigkeiten.« Aber wenn Juan ihn auf die gefährliche kaputte Treppe ansprach oder auf den verstopften Abfluss oder auf einen der sonstigen Missstände, die das Leben im Haus zu einer Prüfung machten, hatte Bonati immer irgendeine Ausrede parat und unternahm nichts. Schließlich erkannte Bonati, dass der junge Mann am Ende seiner Geduld war, und ihn beim Arm nahm.
»Hör zu, ich seh dir an, dass du ein gescheiter Junge bist. Du bist höflich, du gehst aufs College. Denk mal nach – kennst du sonst jemanden aus diesem Block, der aufs College geht? Die meisten von ihnen haben nicht mal einen Highschoolabschluss. Also hör zu, was ich dir sage. Deine Mutter zahlt mir wenig für die Wohnung. Weißt du, warum? Weil das Gebäude mietpreisgebunden ist. Deswegen verdiene ich auch nichts daran. Deswegen kann ich es mir nicht leisten, viele Reparaturen durchzuführen. Aber das ist vergleichsweise noch ein gutes Haus. Manche Häuser hier in der Gegend fallen buchstäblich auseinander. Das weißt du selbst.« Mr Bonati deutete in Richtung Nordwesten. »Erinnerst du dich an dieses Haus ein paar Blocks weiter, das vor achtzehn Monaten abgebrannt ist?« Das war ein gewaltiges Feuer gewesen, wie Juan noch allzu gut wusste. »Der Eigentümer des Gebäudes verdiente nichts daran. Also hat er den größten Teil der Isolierungen an den elektrischen Leitungen entfernt, und nachdem das Haus abgebrannt ist, hat er die Versicherungssumme kassiert. Verstehst du, was ich dir sage?«
»Sie meinen, er hat den Brand selbst gelegt?« Entsprechende Gerüchte machten damals die Runde.
»Das habe ich nicht gesagt! Okay?« Bonati warf ihm einen kurzen, harten Blick zu. »Das ist überall im Barrio so, überall in Harlem. Früher gab es hier oben anständige Viertel. Deutsche, Italiener, Iren. Aber jetzt hat sich alles geändert. Der Stadtteil geht vor die Hunde, und keiner schert sich darum. Die Kinder wachsen hier unter entsetzlichen Verhältnissen auf, sie kriegen weder einen Job noch eine Ausbildung. Sie haben keinerlei Aussichten, und das wissen sie auch. Genauso ist es in Chicago und anderen Großstädten. Glaub mir, Harlem ist eine tickende Zeitbombe.«
Ein paar Tage später kamen Männer vorbei und reparierten den Abfluss. Doch darüber hinaus ließ Bonati nichts mehr machen. Also erkundigte sich Juan nach der Möglichkeit, für seine Mutter eine bessere Wohnung in einer der Sozialsiedlungen zu bekommen, ohne etwas zu erreichen.
»Hast du das nicht gewusst, Junge?«, sagte der Mann im Laden an der Ecke. »Die Sozialsiedlungen nehmen mit Vorliebe Weiße und Schwarze auf, aber von Puerto Ricanern wollen die nichts wissen. Aus manchen Stadtteilen würden sie die Puerto Ricaner am liebsten vertreiben.«
Juan wandte sich an einige weiße
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