Im Rausch der Freiheit
und seine Mutter Maria hatte sehr hart arbeiten müssen, meist als Putzfrau, um ihr einziges Kind durchzubringen.
Das Leben im Barrio war hart, aber Maria Campos war eine tatkräftige Frau und stolz auf ihr kulturelles Erbe. Sie kochte für ihr Leben gern die sättigenden, stark gewürzten spanischen, indianisch-karibischen und afrikanischen Gerichte, die die puerto-ricanische Küche ausmachten. Schwarzbohnensuppe, polio con arroz, Geschmortes, mofongo und Frittiertes, Kokosnuss und Kochbanane, Okra und Passionsfrucht – damit war Juan großgeworden. Gelegentlich ging Maria aus und tanzte dann begeistert zu den hämmernden Rhythmen der bomba oder zur lebhaften guaracha. Bei diesen seltenen Gelegenheiten sah Juan seine Mutter wirklich glücklich.
Vor allem aber besaß Maria Campos einen brennenden Ehrgeiz. Sie wusste, dass sich ihr eigenes Leben kaum noch ändern würde, aber für ihren Sohn hatte sie hochfliegende Träume.
»Denk an den großen José Celso Barbosa«, pflegte sie ihm einzuschärfen. Barbosa war ein armer Puerto-Ricaner mit schlechten Augen gewesen, der sich aus der Armut emporgearbeitet hatte. Er war der erste puerto-ricanische Arzt mit amerikanischem Doktortitel geworden und hatte sein Leben als Nationalheld und Wohltäter seiner Landsleute beschlossen. »Du könntest ein Mann wie er werden, Juan«, sagte sie dem kleinen Jungen oft. Barbosa war schon lange tot gewesen, und Juan hätte lieber dem – damals noch – lebenden Nationalhelden, dem Baseballstar Roberto Clemente, nachgeeifert. Aber da er klein von Wuchs und kurzsichtig war, wusste Juan, dass er sich in dieser Hinsicht keine Hoffnungen zu machen brauchte. Trotzdem tat er sein Bestes, um die Gebote seiner Mutter zu befolgen – mit einer Ausnahme.
»Halt dich von deinem Cousin Carlos fern!«, sagte sie ihm ständig. Aber Juan hatte schnell begriffen, dass er, wollte er auf den gewalttätigen Straßen des Barrios überleben, niemanden so dringend brauchte wie seinen großen, starken, gutaussehenden Cousin Carlos.
Jede Straße hatte ihre Gang und jede Gang ihren Anführer. In Juans Siedlung war Carlos’ Wort unter den Jugendlichen Gesetz. Falls ein Junge einen Laden ausrauben oder Drogen oder was auch immer verkaufen wollte, dann wäre er ein Narr gewesen zu versuchen, das ohne Carlos’ Erlaubnis zu tun. Und falls jemand einem Jungen, der unter Carlos’ Schutz stand, auch nur ein Haar krümmen würde, konnte er sich auf eine Tracht Prügel gefasst machen, die er nie wieder vergessen würde.
Wenn Juan auch klein war und nicht allzu gut sah, hatte Gott ihm doch Talente gegeben, die seine Schwächen mehr als wettmachten. Er war lebhaft, er hatte ein gutes Herz, und er war witzig. Und so hatte Carlos nicht lang gebraucht, um zu dem Schluss zu gelangen, dass Juan unter seine Fittiche gehörte. Die Gang adoptierte ihn als eine Art Maskottchen. Wenn seine Mutter wünschte, dass Juan sich in der Schule Mühe gab, dann war das für die Gang okay. Was konnte ein Junge wie er schließlich sonst schon tun? Den Rest seiner Kindheit verlebte Juan völlig unbehelligt.
Und Maria wollte wirklich, dass Juan sich in der Schule anstrengte. Es war ihr glühendster Wunsch. »Du willst ein besseres Leben – sieh zu, dass du was lernst!«, hämmerte sie ihm immer wieder ein. Wenn Juan groß und stark gewesen wäre, hätte er vielleicht nicht wirklich auf sie gehört, aber ein leises Stimmchen in seinem Inneren schien ihm zu sagen, dass sie recht hatte. Also spielte er zwar mit den anderen Jungs auf der Straße, gab allerdings oft vor, müder zu sein, als er tatsächlich war, und ging wieder ins Haus, um zu lernen.
Juan und seine Mutter wohnten in zwei schäbigen Zimmern auf der Lexington Avenue, nicht weit von der 116th Street. Obwohl katholische Schulen hier existierten, besuchte Juan wie die meisten Puerto Ricaner die städtische Schule. Je nachdem, wie sie aussahen, konnte man gewöhnlich erraten, wo die Schüler jeweils wohnten. Die Schwarzen westlich der Park, die Puerto Ricaner zwischen Park und Pleasant und die Italiener, deren Familien in der Regel am längsten in Harlem lebten, östlich der Pleasant Avenue. Außerdem gab es jüdische Schüler und mehrere Lehrer jüdischer Herkunft. Auch Juans Schulfreund, mit dem er viel Zeit verbrachte, war ein Jude. Eins Tages sagte Michael: »Wenn ich hier fertig bin, hoffen meine Eltern, dass ich die Stuyvesant besuchen kann.« Juan wusste nicht, was die Stuyvesant war, also erklärte ihm Michael, die drei
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