Im Rausch der Freiheit
dort überall die Botschaft zu verbreiten. Seine erste Station war Philadelphia gewesen.
»Er ist sehr bemerkenswert«, sagte Mercy zu John Master.
»Du hast ihn predigen hören?«
»Natürlich. Ich bin mit Ben Franklin hingegangen, der mit ihm befreundet ist. Denn du kannst sicher sein«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, »dass Mr Franklin niemandem, der einen Namen hat, gestattet, sich auch nur einen Tag in Philadelphia aufzuhalten, ohne seine Bekanntschaft zu machen.«
»Er hat dich beeindruckt?«
»Sehr. Er hat eine volltönende und dabei so klare Stimme, dass es heißt, man könne ihn noch aus einer Meile Entfernung hören und verstehen – wie Unser Herr während der Bergpredigt, stelle ich mir vor. Und wenngleich die Worte, die er gebraucht, sich von denen anderer Prediger nicht unterscheiden, hat er die Gabe, Szenen so zu schildern, dass man meint, sie mit eigenen Augen direkt vor sich zu sehen. Es ist sehr bewegend. Er sprach unter freiem Himmel vor Tausenden von Menschen. Viele waren ganz überwältigt.«
»War Mr Franklin überwältigt?«
»Bevor wir von zu Hause aufbrachen, sagte er zu mir: ›Whitefield ist ein braver Bursche, aber ich werde mich nicht an der Nase herumführen lassen. Deswegen habe ich überhaupt kein Geld eingesteckt. So kann ich nicht in Versuchung geraten, ihm irgendetwas zu geben, bevor ich nicht wieder einen kühlen Kopf habe.‹«
»Franklin hat also nichts gespendet?«
»Ganz im Gegenteil. Mr Whitefield sammelte für sein Waisenhaus in Georgia, und am Ende der Predigt war Mr Franklin so erregt, dass er sich von mir Geld geliehen hat, um es spenden zu können. Er hat es mir natürlich später zurückgegeben«, fügte sie hinzu.
Whitefield war schon zweimal nach New York gekommen. Die anglikanischen und die niederländisch-reformierten Pfarrer erlaubten ihm nicht, in ihren Kirchen zu sprechen. Nur ein presbyterianischer Geistlicher empfing ihn mit offenen Armen. Whitefield predigte außerdem im Freien. Nicht jeder war jedoch von seiner Botschaft begeistert. Als er von der Notwendigkeit sprach, an das Wohl der Sklaven zu denken, meinten einige, er wolle Unruhe stiften. Dann, letzten November, kam er erneut in die Stadt.
»Wirst du nicht kommen, um ihn zu hören?«, fragte Mercy.
»Ich habe dazu, glaube ich, keine Lust«, entgegnete John.
»Ich würde ihn gern noch einmal unter freiem Himmel predigen sehen«, sagte sie. »Aber ich kann nicht allein unter diese Menschenmassen gehen. Es wäre freundlich von dir, wenn du mich begleiten würdest«, fügte sie leicht vorwurfsvoll hinzu.
Da konnte John sich schwerlich weigern.
*
Es war ein frostiger Herbsttag, als sie den Broadway hinaufgingen. Sie kamen an der Trinity Church und an dem presbyterianischen Versammlungshaus vorbei. Ein paar Querstraßen weiter passierten sie das Versammlungshaus der Quäker. Und noch ein Stück weiter, wo der alte Indianerpfad nach rechts abbog, begann die große dreieckige Fläche des Commons. Und eben dorthin, auf die Gemeindewiese, strömten trotz der Kälte unzählige Menschen. Als John und Mercy eintrafen, hatte sich bereits eine riesige Menge zusammengefunden.
John schätzte, dass es über fünftausend Menschen waren, und der Zustrom riss nicht ab.
Man sah die verschiedensten Leute: ehrbare Kaufmänner mit ihren Familien, Handwerker, Lehrlinge, Seeleute, Arbeiter, Sklaven.
In der Mitte des Commons war eine hohe hölzerne Plattform errichtet worden.
Obwohl sie mehr als eine halbe Stunde warten mussten, blieben alle in der Menge gesittet und bemerkenswert ruhig. Die erwartungsvolle Spannung war groß. Endlich sah man ein halbes Dutzend Männer auf die Plattform zugehen; und als sie sie erreicht hatten, stieg einer von ihnen die Stufen hinauf und wandte sich zur Menge. John hatte irgendeine Art von Einleitung erwartet, aber da sah er sich getäuscht. Keine Choräle, keine Gebete. Mit einer lautstark vorgetragenen Bibelstelle wandte sich der Prediger sofort ans Publikum.
George Whitefield war in einen schlichten schwarzen Talar mit Beffchen gekleidet und trug eine Allongeperücke. Doch selbst auf die Entfernung konnte John erkennen, dass der Prediger noch keine dreißig war.
Aber mit welcher Selbstsicherheit er das Evangelium predigte! Er erzählte ihnen von Lazarus, der von den Toten auferweckt wurde. Er zitierte die Heilige Schrift und andere Autoritäten, zwar recht ausführlich, aber so, dass man leicht folgen konnte. Die Menge lauschte aufmerksam und von seiner Gelehrsamkeit
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