Im Reich der Löwin
die Hauptstadt zu erreichen.
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Während die Banner der Franzosen an dem wolkenverhangenen Horizont verschwanden, trat Richard Löwenherz in den weitläufigen Hof der Burganlage und steuerte – seinen Neffen Otto dicht hinter sich – auf die Stallgebäude zu. »Mach schon!«, herrschte er Roland an, der mit fliegenden Fingern das Reittier seines Halbbruders sattelte, bevor er seinem eigenen Wallach den Sattel auf die Kruppe hievte. Hinter ihm drängten sich William Marshal, der Earl of Leicester, Robin of Loxley, die Earls of Arundel und Derby sowie der Normanne Mercadier, der wie ein Schatten an Löwenherz’ Seite klebte. Im Hintergrund zeichnete sich John Lacklands mürrische Miene vor der dunklen Wand der Sattelgasse ab. »Ihr werdet staunen«, versprach der König geheimnisvoll, nachdem er dem Bischof Walter von Rouen – der die Reiter misstrauisch aus der Entfernung beobachtete – einen Blick zugeworfen hatte, unter dem der Kirchenmann zu schrumpfen schien. Ohne zu warten, bis die für seinen Schutz zuständigen Panzerreiter ihren Platz eingenommen hatten, gab er seinem Schlachtross die Sporen und preschte in halsbrecherischem Tempo den Anstieg hinab. Dann jagte er an der Spitze seines Trupps durch die schmalen Straßen der Stadt, bis sie schließlich die Stadtmauern hinter sich gelassen hatten und an den Ufern der träge dahinfließenden Seine in Richtung Süden galoppierten. Mit donnernden Hufen flog die Abordnung an den ärmlichen, durch Schnee und Matsch noch schäbiger wirkenden Dörfern vorbei, bis sie nach etwa einer halben Stunde scharfen Rittes eine Flussbiegung erreichte. An die Ufer des reißenden Wassers schmiegte sich der winzige Flecken Le Petit Andely. Steil ragte eine imposante Felsklippe über den Dächern des Dorfes auf, an deren Fuß sich ein zu dieser Jahreszeit gefrorenes Sumpfgebiet erstreckte. In der Mitte des Flussknies, auf einer kleinen Insel, befand sich die vom Bischof von Rouen so vehement verteidigte Zollstation, die seiner Diözese ein saftiges Jahreseinkommen sicherte.
Wenngleich in Roland immer noch Wut brannte, kam er nicht umhin, seinen Halbbruder fassungslos anzustarren, als dieser am Fuße der mächtigen Klippe Befehl gab, abzusitzen und Anstalten machte, den Felsen zu erklimmen. Dicht neben ihm ließ sich der geckenhafte Ludwig von Blois aus dem Sattel eines lammfrommen Wallachs gleiten, ehe er sich den Schnee aus den seidenen Beinlingen klopfte. Bei dem Gedanken daran, dass dieser eitle Pfau jemals Hand an Jeanne legen könnte, drohte Roland die Selbstbeherrschung zu verlieren. Doch bevor die Situation für ihn gefährlich werden konnte, verkündete Richard an die Anwesenden gewandt: »Vor Euch seht Ihr den zukünftigen Standort der mächtigsten Festung, die das Abendland je gesehen hat!« Als ihm außer erstauntem Schweigen keine Reaktion entgegenschlug, brach er in brüllendes Gelächter aus und dröhnte: »Ja dachtet Ihr denn, ich ließe mich von einem Pfaffen gängeln?!« Mit diesen Worten warf er den Mantel über den Arm, zog das Schwert und begann, sich einen Weg durch das Dickicht den schroffen Abhang hinauf zu bahnen. Während er dem vorauseilenden Löwenherz keuchend folgte, fragte sich Roland, ob dieser den Vorfall in Poitiers bereits vergessen hatte, oder ob der König die Starrköpfigkeit seines Halbbruders unterschätzte. Er konnte doch nicht im Ernst davon ausgehen, dass Roland schweigend mit ansehen würde, wie Jeanne zum zweiten Mal gegen ihren Willen verehelicht wurde! Und dennoch hatte Richard die Bestrafung durch Mercadier mit keinem Wort erwähnt. Auch der Normanne verhielt sich ihm gegenüber, als ob niemals etwas geschehen wäre. Lediglich eine gewisse Härte hatte sich in den Umgang des Königs mit seinem Knappen eingeschlichen. Aber da er ihn auch vorher nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst hatte, war der Unterschied kaum merklich. Voller Verachtung blickte sich Roland nach dem Nebenbuhler um, der bereits nach wenigen Schritten weit zurückgefallen war. Während Harold of Leicester, Robin of Loxley und Mercadier unbeirrt den Fußstapfen ihres Lehnsherrn folgten, kämpfte sich Henry Plantagenet an Rolands Seite, um ihn fragend anzublicken. Da der Jüngere wusste, wie es um die unglücklichen Liebenden stand, waren keine Worte nötig. Und nach einem Blick auf den Grafen von Blois legte Henry dem Bruder schweigend die Hand auf die Schulter und zwinkerte ihm aufmunternd zu.
Nach einer weiteren halben Stunde beschwerlichen
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