Im Reich der Löwin
als Philipp von Frankreich – im Auge zu behalten. Unter Aufbietung aller körperlichen Kräfte hatte er sich auf den Rücken seines Reittieres gehievt und diesem die Sporen gegeben, um der englischen Delegation den Fluss entlang zu folgen. Mehr als einmal wäre er um ein Haar zu Boden gegangen, als sein Ross auf dem tückischen Untergrund strauchelte. Doch wenngleich der wenig an Bewegung gewöhnte Walter alle Hände voll zu tun gehabt hatte, nicht den Halt zu verlieren, war es ihm gelungen, einen Sturz in den verharschten Schneematsch zu verhindern. Frierend hatte er die Engländer verfolgt, bis er schließlich in einem Dorf in der Nähe des Felsens beschlossen hatte, aus der Entfernung abzuwarten, was die Männer vorhatten. Nicht wenig verwundert hatte er den Aufstieg der gepanzerten Ritter beobachtet – froh am Fuß der abweisenden Klippe haltgemacht zu haben.
Müde strich er sich über die von schweren Lidern beschatteten Augen, die von der Anstrengung des Rittes durch die schneebedeckte Landschaft brannten. Sein dunkelblondes Haar hing feucht in sein rundwangiges, von der Kälte gerötetes Gesicht, auf dem in diesem Augenblick selbstgerechter Zorn, Empörung und Furcht Widerstreit hielten. Eigentlich hätte er Richard Löwenherz inzwischen gut genug kennen müssen, um einen solchen Zug vorauszusehen. Denn immerhin hatte er unter dessen Vater als Vizekanzler von England fungiert. Und in seiner Einstellung der Kirche gegenüber schien Richard dem notorischen Henry in keinerlei Hinsicht nachzustehen! Zwar war er mit dem Löwen bisher gut ausgekommen – was sicherlich mit daran lag, dass Walter neben der Diözese von Rouen auch das Bistum von Oxford innehielt. Doch schien dieses Verhältnis am Prüfstein der Zollstation von Les Andelys zu zerbrechen. Denn diese war Walter unter keinen Umständen bereit aufzugeben! Wütend wendete er die träge Stute, die als einziges Tier in seinen Stallungen seinen Sicherheitsansprüchen genüge tat, und trabte das linke Seine-Ufer entlang in Richtung Louviers zurück. Von dort aus würde er ohne Unterlass nach Rouen aufbrechen. Wenn Löwenherz tatsächlich vorhatte, die Klippe zu annektieren, dann wollte sich Walter in heimischen Gefilden befinden – wo er sich nicht vorkam wie ein Fisch auf dem Trockenen!
Als er gerade die Biegung des Flusses erreicht hatte, frischte der ohnehin starke Wind weiter auf und zwang ihn dazu, Schutz im Schatten der kahlen Pappeln zu suchen. Einen wenig zu seinem Amt passenden Fluch murmelnd, schlug er den Kragen seines Umhangs hoch und zügelte sein Reittier, um es gleich darauf aus dem Schritt zum Angaloppieren zu bewegen. Während die Hufe der Stute sich knirschend in den eisigen Untergrund gruben, machte er sich klein, um dem peitschenden Sturm, der die ersten Schneeflocken nach Süden trieb, so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Während er wie ein Mehlsack im Sattel auf und ab hüpfte, wurde der Schneefall immer dichter, bis er schließlich kaum mehr die Hand vor Augen erkennen konnte. Meile um Meile legte er zitternd und bebend zurück, und als schließlich die Umrisse der Befestigungsanlagen von Louviers vor seinen tränenden Augen auftauchten, sandte er ein Stoßgebet gen Himmel. Er würde sofort nach seiner Ankunft ein ganzes Dutzend Kerzen entzünden, um Gott für die Rettung vor den tobenden Elementen zu danken. Und sobald das Unwetter abgeflaut war, würde er sich nach Rouen aufmachen.
Zwei Tage später hatte sich der Schneesturm gelegt. Und am späten Vormittag eines Tages, der von einer schwindsüchtigen Wintersonne erhellt wurde, trabte Walter von Rouen durch die Tore seiner Heimatstadt. Über dem wie Brackwasser in seinem Bett liegenden Fluss stritten sich laut schimpfende Möwen um die allmählich knapp werdenden Fischabfälle, die den Hungernden das Überleben sicherten. In den weniger feinen Vierteln der Bischofsstadt kauerten Bettler und Krüppel in den Schatten der vernachlässigten Häuser, in denen Diebe und Betrüger ihre Lager aufgeschlagen hatten. Nach einem missfälligen Blick auf den Stadtpalast, in den John Lackland offenbar inzwischen zurückgekehrt war, lenkte Walter seine Stute durch die bewachte Doppelpforte seiner eigenen Unterkunft zu Füßen der Basilika und glitt seufzend aus dem Sattel. »Ich will nicht gestört werden«, befahl er seinem Diakon, bevor er sich in seinem Gemach einschloss, um über seine weitere Vorgehensweise nachzugrübeln.
Rouen, 15. Januar 1196
Zur gleichen Zeit, als
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